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Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt

Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt

Titel: Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva;Buccieri Mozes Kor
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meisten jedoch waren eineiig wie Miriam und ich. Später hörte ich, dass Mengele dem Geheimnis der Zwillingsbildung auf die Spur kommen wollte. Ein Zweck seiner Experimente war, herauszufinden, wie er blonde, blauäugige Babys in großer Zahl schaffen konnte, um so die deutsche Bevölkerung zu vermehren. Hitler nannte die Arier, die blonden, blauäugigen, hellhäutigen Deutschen, die »Herrenrasse« – und wir waren seine menschlichen Versuchskaninchen. Mit dem Ziel, andere natürliche »Abnormitäten« zu untersuchen und genetische Mutation zu verhindern, befasste sich Mengeles Forschung auch mit Riesen, Zwergen, Körperbehinderten und so genannten Zigeunern. Die Zwerge lebten in einer Baracke neben unserer und manchmal sahen wir sie durchs Lager gehen.
    Wir alle saßen splitternackt auf Bänken. Auch Jungen waren dabei. Es war bitterkalt. Wir konnten uns nirgends verstecken. Ich schämte mich, ohne jede Kleidung dort zu sein. Einige Mädchen kreuzten ihre Beine und bedeckten sich mit ihren Händen. Andere zitterten vor Angst, während SS-Wachen lachend mit dem Finger auf uns zeigten. Die Nacktheit war für mich eines der entwürdigendsten Dinge im Lager.
    Dr. Mengele schaute zur Kontrolle immer wieder kurz vorbei. Andere Ärzte und Schwestern in weißen Kitteln – Lagerinsassen oder Gefangene wie wir – beobachteten uns und machten Notizen.
    Als Erstes vermaßen sie meinen Kopf mit einem Instrument namens Messschieber, bestehend aus zwei an einer Art Lineal befestigten Metallleisten, die sie von zwei Seiten gegen meinen Schädel pressten und zusammendrückten. Der Arzt rief die Zahlen einem Assistenten zu, der die Angaben in einer Akte eintrug.
    Sie vermaßen unsere Ohrläppchen; unsere Nasenrücken; die Breite unserer Lippen; die Größe, Form und Farbe unserer Augen. Sie verglichen die Blaufärbung von Miriams Augen mit meiner anhand einer Skala von Augenfarben. Immer und immer wieder maßen sie. Sie verbrachten drei bis vier Stunden mit einem Ohr. Jedes Mal, wenn die Ärzte mich vermaßen, vermaßen sie auch Miriam, um festzustellen, worin wir gleich waren und worin wir uns unterschieden. Ein Fotograf schoss Bilder; ein Künstler fertigte Zeichnungen an. Techniker machten Röntgenaufnahmen, fünf oder sechs nacheinander.
    Danach stellten sie uns Fragen und erteilten Befehle. Ein Lagerinsasse, der Ungarisch und Deutsch sprach, fungierte als Dolmetscher. Wenn ich etwas tat, tat Miriam es mir nach. »Jedes Mal, wenn ich das Gleiche mache wie du«, flüsterte Miriam, »schreiben sie etwas auf. Die wollen sehen, wer von uns die Anführerin ist.« Das war natürlich ich, so wie es schon immer gewesen war. Nachdem sie uns am vorhergehenden Tag in der Aufnahmestelle beobachtet hatten, als ich mich gegen die Tätowierung gewehrt hatte, wussten sie außerdem, dass ich eine Unruhestifterin war.
    Wir saßen zwischen sechs und acht Stunden dort. Mir widerstrebte jede einzelne Sekunde. Schließlich durften wir uns anziehen und wurden für die Abendmahlzeit zu unserer Baracke zurückführt: eine magere Ration sehr dunkles Brot, gut sechs Zentimeter lang.
    Nachmittags brachte uns die diensthabende Pflegerin ein deutsches Lied bei. Es ging so: »Ich bin ein kleines deutsches Kind. Bin ich’s nicht, dann pfui!« Sie stellte uns im Kreis auf und ließ ein Mädchen in der Mitte stehen. Wir mussten um das Mädchen herumgehen und singen: »Pfui, pfui, pfui!«
    »Ihr miesen, dreckigen Juden!«, schrie uns die Pflegerin an. »Schweine!« Sie liebte dieses Lied. Es bestätigte, dass wir Kinder widerwärtig waren.
    Wir hassten diese Pflegerin. Hinter ihrem Rücken nannten wir sie »die Schlange«. Sie hatte dicke Beine und lange schwarze Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug.
    Die Schlange verhöhnte uns ständig. »Was glaubt ihr denn, wer ihr seid?«, fragte sie.
    Wir antworteten nicht. Sie erwartete auch keine Antwort. »Ihr glaubt wohl, ihr seid besonders schlau, weil ihr noch am Leben seid?«, fragte die Schlange. »In Kürze werdet ihr tot sein. Wir töten euch alle.«
    An den ersten beiden Tagen weinten Miriam und ich pausenlos. Bald aber merkten wir, dass uns das Weinen kein bisschen weiterhelfen würde.
    Meist fühlten wir uns wie betäubt. Am Leben zu bleiben, das war das Wichtigste. Wir wussten, dass wir wegen der Experimente noch lebten. Wegen einer glücklichen Laune der Natur.
    Weil wir Mengeles Zwillinge waren.

Fünftes Kapitel
    In Auschwitz zu sein, war, als erlebte man jeden Tag von Neuem einen Autounfall.

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