Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Experimente mehr!«
»Keine Spritzen mehr in den Arm!«
»Keine Hinrichtungen mehr am Galgen!«
»Keine …«
Wir versuchten, um die Wette alles aufzuzählen, was wir nicht vermissen würden, jetzt, da wir frei waren.
»Wir können tun, was wir wollen!«, sagte Miriam, und Befriedigung erfüllte ihr kleines Gesicht.
Ihre Worte ließen mich stutzen. Wir können tun, was wir wollen.
Ich schaute zu, wie alle feierten, aber ich sah es nicht. Ich hörte die Musik und den Gesang, aber ich hörte nicht zu.
Wir können tun, was wir wollen. Alles, was wir wollen. Wir sind frei.
Erinnerungen an zu Hause traten mir vor die Augen. Die Geräusche des Bauernhofs hallten in meinen Ohren wider: Holzhacken, gluckende Küken, muhende Kühe. Die Gerüche reifer Früchte in den Obstgärten erfüllten meine Nase. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen und nachgedacht habe.
Es war Miriam, die mich aus meinen Tagträumen riss. »Was ist los, Eva?« Sie schüttelte meinen Arm. »Eva! Was ist?«
Ich wandte mich ihr zu und schließlich nahmen meine Augen ihre Anwesenheit wahr. »Nach Hause«, erklärte ich. »Ich will nach Hause.«
Miriam sah mir forschend ins Gesicht. »Gut. Wir sind frei. Lass uns nach Hause gehen.«
Wir machten eine Bestandsaufnahme unserer sehr geringen Besitztümer, verstauten sie unter uns und in unserer Kleidung. In dieser Nacht schliefen wir tief und fest, denn jetzt hatten wir einen Plan: Wir würden so bald wie möglich nach Hause zurückkehren.
Am nächsten Nachmittag versammelten sich viele Sowjets um uns. Sie sagten zu Miriam und mir und allen überlebenden Kindern, die meisten davon Zwillinge, wir sollten gestreifte Sträflingsuniformen über unserer Kleidung anziehen. Da wir Mengele-Zwillinge waren, hatten wir diese Auschwitz-Uniformen vorher nie getragen. Ich hatte bereits zwei Mäntel übereinander an, weil es so kalt war. Unter unseren Mänteln und Kleidern hatten Miriam und ich unsere gesamte Habe verstaut: Essen, Schüsseln, Decken – Dinge, die wir als Schätze betrachteten.
Wir standen ganz vorn an der Spitze der Schlange und hielten uns an der Hand, als uns Sowjetsoldaten zwischen den hohen Stacheldrahtzäunen hindurch aus den Baracken zu führen begannen. Eine Krankenschwester, die ein Kleinkind auf dem Arm hielt, lief neben uns. Riesige Kameras filmten und filmten ohne Pause. Ich schaute den Kameramann an und wunderte mich, dass er uns ablichtete.
»Sind wir Filmstars oder so etwas?«, fragte ich mich. Ich war von alledem sehr beeindruckt. Die einzigen echten Filme, die Miriam und ich gesehen hatten, waren die mit Shirley Temple in der Hauptrolle, zu denen uns unsere Mama in die Stadt mitgenommen hatte.
Zu meiner Verblüffung schickte uns der Kameramann, nachdem wir alle zwischen den Zäunen hindurchgegangen waren, wieder hinein und wies uns an, noch einmal herauszumarschieren. Mit Nonnen, Krankenschwestern und Sowjetsoldaten als Begleitung liefen lange Reihen von Zwillingen in die Baracken zurück und als Nächstes gleich wieder heraus. Wir wiederholten die Aktion mehrere Male, bis der Kameramann zufrieden war. Jahre später erfuhr ich, dass er die Szene als Teil eines Propagandafilms festhalten wollte, welcher der Welt zeigen sollte, wie die Sowjetarmee jüdische Kinder vor den Faschisten gerettet hatte.
Schließlich verließen Miriam und ich ein letztes Mal Hand in Hand und in den gleichen gestreiften Anzügen die Baracken. Miriam und ich hatten Auschwitz überlebt. Wir waren elf Jahre alt.
Jetzt hatten wir nur eine Frage: Wie sollten wir eigentlich nach Hause kommen?
Elftes Kapitel
Überall um uns herum machten sich Menschen zum Aufbruch bereit. Sie gingen einfach zu Fuß aus dem Lager. Ich wusste nicht, welche Richtung wir einschlagen sollten. Ich wusste nicht, wo wir uns überhaupt befanden. In jenen Tagen wusste ich nicht, dass es Länder namens Polen und Sowjetunion gab. Da ich in einem kleinen Dorf in Rumänien zur Schule gegangen war, hatte ich nichts über die übrige Welt erfahren.
Die nächsten beiden Wochen blieben Miriam und ich zusammen mit vielen anderen ehemaligen Gefangenen in Auschwitz. Anfangs hatten wir nicht genügend zu essen. Ich ging zurück in den Keller und füllte mein Tuch mit Mehl.
»Njet! Njet!« Nein! Nein!, schrie ein sowjetischer Soldat. Er feuerte einen Schuss ab.
Voller Schrecken verschüttete ich das Mehl, rannte ins Freie und stürzte zu Miriam zurück. Später begriff ich, dass der Soldat nicht nach Art der Nazis auf mich
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