Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
frische Luft fühlte sich herrlich an. Wir genossen es, Felder und Berge vorüberziehen zu sehen. Es war Frühling. Blumen blühten, Vögel zwitscherten.
Wir waren nicht mehr in Gefahr. Wir waren frei.
Manchmal hielt der Zug für fünf oder sechs Stunden. Dann stiegen wir aus, Frau Csengeri legte zwei Backsteine auf den Boden, machte ein Feuerchen und kochte etwas in einem Topf. Die Sowjets gaben uns Brot und sonstige Verpflegung, aber wir hatten selbst ein paar Lebensmittel mitgenommen. Ich musste mich nicht mehr darum sorgen, wie ich uns ernähren sollte. Frau Csengeri übernahm das ohne jegliches Murren. Wenn der Schaffner rief, der Zug werde gleich weiterfahren, sprangen wir wieder hinein.
Wir fuhren nach Rumänien. Im Zug sangen und redeten wir. Frau Csengeri und Frau Goldenthal sagten, sie wollten die gestreiften Sträflingsanzüge, die sie in Auschwitz getragen hatten, aufbewahren und vor der Welt Zeugnis ablegen, was dort geschehen war. »Ich werde meine Geschichte erzählen«, sagte Frau Csengeri immer wieder. »Ich werde erzählen, was diese Ungeheuer uns angetan haben.« Damals verstand ich noch nicht, warum das so wichtig war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer überhaupt von Auschwitz hören wollte, aber die Frauen sprachen weiter darüber. Es tauchte die Frage auf, ob ihre Ehemänner überlebt hätten. Ich fragte mich, ob außer Miriam und mir irgendwer in meiner Familie überlebt hatte. Keiner wusste es ja.
Manchmal kamen wir durch zerbombte Dörfer und Städte. Backsteinbauten lagen in Trümmern. Schutt bedeckte den Boden. Manche Orte schienen vollständig verlassen. Wir fuhren von Kattowitz in Polen nach Czernowitz (Tschernowitz) nahe der rumänischen Grenze. Am äußeren Stadtrand zogen wir in ein Lager, das womöglich ein Arbeitslager oder Getto gewesen war. Wir blieben dort zwei Monate im Glauben, unserer Heimat näher zu rücken.
Eines Nachmittags befahl man uns zu packen, und wir wurden in einen weiteren Viehwaggon mit Etagenbetten verfrachtet. Als der Zug weiterrumpelte, wurde den Erwachsenen klar, dass wir inzwischen bereits Rumänien hätten erreichen müssen; Siebenbürgen gehörte wieder zu Rumänien, es war nicht mehr ungarisch. Frau Csengeri schaute auf die Schilder und sagte, wir führen tiefer in die Sowjetunion hinein. Als der Zug bergauf kroch, sprangen einige Leute ab und rollten sich von den Gleisen weg. »Wo wollen sie hin?«, fragte ich mich. Jahrelang dachte ich darüber nach, was wohl aus ihnen geworden war. Später begriff ich, dass viele Menschen Angst vor der Sowjetunion hatten und nicht unter kommunistischer Herrschaft leben wollten.
Nach einer Woche erreichten wir ein Flüchtlingslager in Slucz. Es lag in der Nähe von Minsk in der Sowjetunion. Dort lebten wir einige Monate zusammen mit ehemaligen Gefangenen aus ganz Europa. Schließlich wurden wir unseren Heimatländern entsprechend in Gruppen aufgeteilt.
An einem Oktobertag machten wir uns auf den Rückweg nach Rumänien. Unser erster Halt war Nagy-Várad Oradea, die Stadt, aus der Frau Goldenthal kam. Sie und ihre Kinder gingen nach Hause. Wie neidisch war ich! Ich wollte auch wieder bei uns zu Hause sein! Diese Nacht verbrachten wir anderen in einem Hotel in Bahnhofsnähe, und wir aßen auch dort zu Abend. Das Essen war sehr, sehr gut, es bestand aus Ofenkartoffeln mit gewürzten Spiegeleiern und Äpfeln mit Eiscreme zum Nachtisch. Ausnahmsweise waren wir nach dem Essen wieder einmal satt. Von einer jüdischen Agentur bekamen wir das Geld zum Bezahlen der Rechnung. In jeder Stadt, die früher jüdische Einwohner gehabt hatte, gab es nun eine jüdische Agentur, die sich um Vertriebene wie uns kümmerte und bei der Zusammenführung von Familien half.
Am darauffolgenden Tag bestiegen wir einen weiteren Zug und fuhren südwärts nach S ˛ imleu Silvaniei, in Frau Csengeris Stadt. Sie lud uns ein, über Nacht bei ihr zu bleiben. Morgens dankten wir ihr für ihre Fürsorge und nahmen den ersten Zug nach Portz, zu unserem Dorf.
Als der Zug hielt und der Schaffner »Portz!« rief, erkannte ich den Bahnhof sofort. Hand in Hand stiegen Miriam und ich oben auf der Anhöhe aus und machten uns auf den Weg in den Ort hinunter. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte ich. Ich musste unser Zuhause sehen. Ich weiß nicht genau, was ich vorzufinden erwartete. Würde alles so sein, wie wir es zurückgelassen hatten, nur ein wenig vernachlässigt durch die Monate unserer Abwesenheit? In meiner Vorstellung bestand »Zuhause« aus
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