Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Schwester anschaute und dachte: »Sie sieht aus wie ein Skelett. Bin ich genauso?« Sobald wir irgendetwas fanden, verschlangen wir es bis zum letzten Krümel. So etwas wie Reste gab es nicht. Damals wussten wir nicht, dass es in unserem Zustand der Unterernährung gefährlich war, sich kurzfristig vollzustopfen. Einige Mädchen bekamen einen Blähbauch, und eine meiner besten Freundinnen vom Organisieren starb daran, dass sie zu viel gegessen hatte.
Eines Morgens machten ein anderes Zwillingspaar und ich uns auf den Weg zur Weichsel, dem Fluss, der nicht weit vom Lager verlief. Ausgerüstet mit ein paar Flaschen und Behältern wollten wir das Eis aufbrechen, die Flaschen hinunterlassen und sie mit frischem Wasser füllen.
Als ich am Flussufer stand, entdeckte ich ein Mädchen meines Alters auf der anderen Seite. Sie hatte die Haare zu Zöpfen geflochten und trug ein hübsches, sauberes Kleid und einen Mantel. Auf dem Rücken hatte sie einen Schulranzen, sodass mir klar war, dass sie zur Schule ging.
Ich erstarrte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es da draußen noch eine Welt gab, in der die Menschen sauber waren und Mädchen Zöpfe mit Schleifen und nette Kleider trugen und zur Schule gingen! Früher einmal war ich ja selbst dieses Mädchen in netten Kleidern und mit Schleifen im Haar auf dem Weg zur Schule gewesen. Und bis zu diesem Augenblick hatte ich mir irgendwie vorgestellt, alle Menschen würden wie wir in einem Konzentrationslager leben. Aber nun begriff ich, dass das nicht stimmte.
Das Mädchen starrte mich an. Ich blickte an mir hinunter: Ich trug zerlumpte Kleider, in denen es von Läusen wimmelte, dazu einen Mantel und Schuhe, die jeweils viel zu groß für mich waren. Ich war hungrig und musste überall nach Essen und Wasser suchen. Ich weiß nicht, was das Mädchen dachte, aber als ich den Kopf wieder hob und zu ihm hinüberschaute, fühlte ich heißen Zorn in mir aufwallen. Ich fühlte mich betrogen. Miriam und ich hatten doch nichts Böses getan! Wir waren zwei kleine Mädchen, genau wie sie. Warum steckten wir in dieser Lage, während sie da drüben so hübsch und sauber aussah und ein völlig normales Leben führte? Es war für mich so unbegreiflich, so falsch. Aber dort stand sie. Und hier stand ich.
Nach einer, wie mir schien, langen Zeit schulterte sie ihre Büchertasche und ging davon.
Ich schaute ihr nach, sah, wie sie verschwand, betrachtete dann die leere Stelle, an der sie gestanden hatte. Ich begriff es nicht. Ich konnte es einfach nicht begreifen.
Dann merkte ich, dass mein Magen knurrte, er erinnerte mich an meinen Hunger und Durst. Ich fand einen dicken Stock und rammte ihn wütend in die Oberfläche des vereisten Flusses, bis sie brach und ein ausreichend großes Loch entstand. Dann tauchte ich meine Flasche in den eisigen Fluss, kippte sie ein wenig zur Seite und beobachtete, wie die Luftblasen entwichen, während die Flasche sich mit klarem Flusswasser füllte. Das Bild des Mädchens blieb in meinem Gedächtnis haften – zusammen mit all meinen Fragen zu der Welt dort draußen.
Als wir so viel Wasser abgefüllt hatten, wie unsere Flaschen fassen konnten, kehrten die Zwillinge und ich ins Lager zurück. Gleich nach unserer Ankunft entzündeten wir ein kleines Feuer und kochten das Wasser ab, um eventuelle Bakterien abzutöten. Obwohl wir noch ein paarmal zum Fluss gingen, sah ich das Mädchen nie wieder.
Wir konnten das Lager nicht verlassen, weil ringsum überall Kämpfe tobten. Es war sehr gefährlich, hinauszugehen. Gewehre feuerten wahllos und trafen jeden, der in ihren Radius geriet. Wir befanden uns inmitten einer Kampfzone. In dem Getöse und dem Chaos draußen lernten wir jedoch, dem Rat-tat-tat des Maschinengewehrfeuers auszuweichen. Wenn wir ein ganz bestimmtes Heulen hörten, mussten wir schnell Deckung suchen, weil eine Granate in unsere Richtung geflogen kam. Gewehrsalven sprühten und knatterten aus den Bunkern, in denen sich die SS versteckt hatte, nachdem man uns in den Baracken abgeladen hatte.
In jenen Tagen gingen Gerüchte um, dass das gesamte Lager in die Luft gesprengt werden sollte – die Baracken, die Gaskammern, das Krematorium –, um Beweise für die nationalsozialistischen Verbrechen zu vernichten. Die SS zwang sechzigtausend Gefangene, einen Todesmarsch anzutreten. Miriam und ich verharrten zusammen mit vielen anderen Zwillingen dicht aneinandergekauert in unserer Glücksbringer-Baracke. Tausende weitere Gefangene, die zu alt und zu krank
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