Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
dicht bewölkt. Mir war schon die Tage unangenehm aufgefallen, dass die dunkle Phase am Morgen erheblich länger geworden ist, als noch vergangene Woche. Es ist halt Herbst und die Tage werden schneller kürzer, als uns das lieb ist. Seit fast drei Wochen wandere ich jetzt schon durch die Landschaft! Aus dem Ort heraus geht es am Kanal de Kastilla entlang, leider im Dunklen, wie ich noch denke. Keine Fotochance. Aber ich kriege mein Foto doch, nur anders als morgens erwünscht: Nach etwa einer Stunde steht eine Gruppe Pilger quer im Weg. Einer fragt lustigerweise, ob wir Italienisch sprechen. Auf die Idee muss man erst mal kommen, denke ich und antworte auf englisch, das sei eine lustige Frage mitten in Spanien. Wir könnten aber gern mit den Weltsprachen Englisch, Französisch und Deutsch weiterhelfen.
Das Sprachdefizit der Romanen stellt sich dann aber als das weitaus geringere Problem heraus: Sie haben den Verdacht, dass wir alle hier ziemlich falsch gelaufen seien. Rund ein Dutzend Pilger ist vor und hinter uns an den wackelnden Stirnlampen in der Finsternis zu erkennen. Das Argument des Italieners ist, der Kanal sei auf der falschen Seite unseres Weges. Zudem gebe es keine Zeichen mehr. Der Verdacht macht unsicher. Die Seite des Weges neben dem Kanal scheint mir allerdings zunächst egal, da das auf der Karte nicht zu erkennen ist. Dieblaue Linie und die rote überlappen sich einfach. Und Zeichen braucht es hier nicht, finde ich - es gibt nur diesen einen Weg ohne Abzweigungen. Dann aber, nur Minuten später, der Hammer: Eine Wolkenlücke zeigt den knallroten Sonnenaufgang vor uns! Der müsste aber wie immer hinter uns sein. Wir laufen seit gut einer Stunde strammen Schrittes genau in die falsche Richtung, nach Osten. Na, bravo.
Also kehrt marsch. So ein Mist. Das waren mindestens vier Kilometer, eher fünf bei dem guten Weg und unserem flotten Tempo, rechnen wir. Also die ganze Strecke retour - und das Tagesziel hängt vor uns wie die Karotte vor dem Esel. Es ist schön hier, wie man jetzt im Hellen erkennt. Und nun komme ich auch zu meinen Kanalfotos. Nach zwei Stunden Marsch sind wir dann um halb neun wieder am Startpunkt, acht bis zehn Kilometer extra in den Knochen und noch die für heute sowieso geplanten 26.000 Meter vor uns. Schöne Pleite. Die Kraft des Gehens sei mit uns.
Martin kocht vor Wut über den Umweg. Ich nehme es eher gelassen. Ist ja nicht zu ändern und wir sind selber schuld. Martin aber ist plötzlich zornig auf das ganze Universum. „Warum immer ich?“, stellt er die ganz große Sinn-Frage und zeigt erstmals Einblicke in sein Befinden ganz innen drin. Er fühlt sich sein ganzes Leben lang benachteiligt und auf der Verliererseite, wie es dann aus ihm heraussprudelt. Als 17-Jähriger beimdummen Diebstahl erwischt - eine Mutprobe, zu der er sich habe verleiten lassen - kann er deswegen mit der Vorstrafe weder wie seine Brüder Polizist werden, noch Soldat. Dann scheitert seine erste Ehe mit Pauken und Trompeten, er zahlt ohne Ende und die Ex entfremdet ihn den beiden Töchtern, so dass er bis auf den heutigen Tag keinen richtigen Kontakt mehr zu ihnen hat. Er fühlt sich regelrecht ausgenommen. Dann trifft ihn zwei Wochen vor der Abreise nach Europa ein teurer Wildunfall mit dem gemieteten Auto - die Geldreserven für dem Camino sind plötzlich arg geschrumpft und er muss nun hier sehr sparen. Warum hat immer er Unglück und warum ist die Welt ungerecht, grübelt er? Er glaubt, dass einige Leute immer Glück, andere immer Pech haben. Das sind wohl Fragen, die den Hypnosetherapeuten auf den Camino getrieben haben. Er sucht sehr persönliche Antworten. Aber wer soll die ihm hier beantworten?
Und nun unser frühmorgendlicher Ausflug ins Nirwana, wo doch Knie und Blasen ihm schon genug zusetzen - ihm reicht es und er bezichtigt das Universum der persönlichen Belästigung.
Wir haben uns verlaufen. Eigentlich ja eine Kleinigkeit, die früher oder später auf 800 Kilometern mal passieren musste, und die insgesamt betrachtet doch eher harmlos ist. Sie verhagelt ihm aber nicht nur für heute die Laune, sie sorgt auch erstmals für eine unausgesprochene Missstimmung unter uns zwei Caminogefährten.Ich analysiere in meiner Art der Problemlösung die Fehlerquelle und denke, dass der Umweg nicht passiert wäre, wenn wir im Stockdunkeln nicht die gelben Pfeile übersehen hätten. Meinen Vorschlag, ab morgen einfach ein bisschen später loszugehen, um wieder mehr Helligkeit zu haben, lehnt er aber
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