Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
ab. Auch das Argument der Verletzungsgefahr im Dunkeln mag er nicht gelten lassen. Wir haben inzwischen mehrfach von Pilgern gehört, die vor Sonnenaufgang gestürzt waren. „Das kannst Du ja machen“, raunzt Martin mich an und will weiter um 6.30 losmarschieren. Stimmt, kann ich. Ich will nicht den halben Weg ohne Sicht zurücklegen. Und früh genug sind wir immer noch in unseren Zielorten.
Dieser Sonntag wird ein Pilgertag, der eines Sonntags unwürdig ist. Nicht nur, dass Pilger kein Wochenende haben, wir müssen nach unserem Neustart nun gut 26 Kilometer gegen den strammen, kühlen Gegenwind an der Landstraße entlanglaufen. Zum Glück wird es dann wenigstens am Nachmittag sonnig. Martin bleibt lange schweigsam und grummelt vor sich hin. Die Stimmung bessert sich nur sehr langsam und so richtig schwatzhaft ist er heute leider nicht.
An einem Brunnen treffe ich beim Foto-Stopp einen Fahrraddeutschen, der ohne Zweifel sofort ein Gespräch anfangen will. Die Radler sind mit ihren großen Tagesetappen halt ein bisschen allein, ohne wiederkehrende Mitpilger am Ende einesTages. Daraus entwickelt sich folgender Dialog, der in mir langsam Panik aufsteigen lässt. Wir fotografieren beide ein Kirchturmnest mit zwei Störchen darin: Er: „Die zwei mögen sich.“ Ich: „Kann man vermuten.“ Er: „Wie beim Camino, manche lieben und manche hassen ihn.“ Ich (leicht alarmiert ob des flotten Themendrehers und deshalb besonders lakonisch): „Ach, ich glaube, die meisten latschen einfach nur so drauf rum.“ Er: „Also ich bin hier zum dritten Mal, so toll finde ich das.“ Ich: „Ich glaub`, mir fällt in den nächsten Ferien was Besseres ein, zum Beispiel Mauritius.“ Er: „Das habe ich ja noch nie gehört. Aber vielleicht sind die anderen auch nicht ehrlich zu mir.“ Ich: „Jau.“ Und ab. Der ist bestimmt auf dem Jakobsweg unterwegs, weil hier immer alles so total spirituell ist. Ich mache mich zügig vom Acker und mühe mich, Martin wieder einzuholen. Lieber ein schlecht gelaunter Mitpilger als einer mit Sockenschuss. Solches Blabla braucht kein Mensch. Außerdem zeigt sich die Qualität guter Freunde auch darin, im Gespräch mit unterschiedlichen Positionen ein ausdauernder Sparringspartner zu sein…
Um 14 Uhr erreichen wir endlich Carrion. Die Füße und Beine sind lahm von insgesamt 35 Kilometern. Ich finde ein schönes Hostal mit Einzelzimmer con banjo und Wäscheservice. Um 18 Uhr ist wie so oft der Treffpunkt vor der Kirche vereinbart. Mit Mühe finden wir ein Restaurant, das sonntags auf hat und essen dann aber prima, dasMenü für zehn Euro. Das ist echte Provinz hier. Ein „Redneck-Village“, wie meine englischsprachigen Mitpilger es nennen. Rednecks - also Rotnacken, sind für sie simple Menschen, Bauern, deren Nacken von der vielen Feldarbeit rot sind. Die Dorfbewohner glotzen uns tatsächlich an, als wären wir mal wieder die ersten Pilger seit 25 Jahren. Die schlampige Bedienung an der Bar verdreht die Augen - wieder einmal - wenn man etwas bestellen möchte. Keine Gastgeberkultur. Nicht wenige von uns sind richtig verärgert über diese Flegeleien den Gästen und Kunden gegenüber. Die Schlampe kriegt nicht nur keinerlei Trinkgeld, sondern auch noch die eine oder andere Bemerkung, als wir zahlen. Der Name des Dorfes, „Carrion“, amüsiert die englischsprachigen Pilger. Wenn sie es „Carry on“ aussprechen, verstehen sie es als Aufforderung, weiterzuziehen auf ihrem Pilgerweg.
Martin möchte morgen allein laufen, um mit sich und seinen Emotionen ins Reine zu kommen, wie er das beschreibt. Er ist immer noch missgestimmt. Der sonst so unkomplizierte Kanadier ist tatsächlich auf den Camino, um irgendwelche Antworten auf ganz persönliche Fragen zu seinem Leben zu erhalten. Das ist eine interessante Idee. Ich muss mir auch langsam mal einen besseren Grund ausdenken, warum ich hier unterwegs bin. Bisher habe ich gesagt: „Einfach nur zum Spaß. Und es macht mir Spaß.“ Ich sag ab morgen einfach, dass ich pilgere, damit der FCBayern wieder Meister wird. Und Champions-League-Gewinner. Jawoll.
Außerdem ist es ihm einfach zu heiß, nach zwölf Uhr mittags zu laufen, sagt Martin. Die Nordamerikaner setzen Sonnenschein sofort mit Hitze gleich, ist mir aufgefallen. Sobald die Sonne scheint, auch bei kühlem Wind, muss Schatten her. Also laufen wir morgen mal getrennt und treffen uns im nächsten Etappenziel.
Ich verabrede mich mit Leonie und der walisischen Theaterregisseurin Dorothy für
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