Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
Ruhe liegt die Kraft, denke ich mir.
Ich unterhalte mich auf der Terrasse eine Zeit lang mit René. Er ist einer von insgesamt nur zwei Schwarzen, die ich auf dem Camino treffe. Das freundliche Sprachtalent ist kaum glaubliche 69 Jahre alt, sieht zehn Jahre jünger aus und wirkt wie eine Mischung aus Collin Powell und Morgan Freeman. Der pensionierte Ingenieur ist Franzose und lebt in Palma de Mallorca - der Glückliche. Zudem spricht er fließend englisch. Der sportliche Kerl will auf dem Camino einfach mal raus aus dem Alltag und die sportliche Herausforderung meistern. Er ist grundsätzlich gut gelaunt, ruhig und zurückhaltend. Es ist immer wieder ein Vergnügen, mit ihm zusammenzutreffen.
Neben den vielen Caminogerüchten der letzten Tage von sagenumwobenen Pilgern, die abertausende Kilometer gelaufen sind, von Helden, die für den guten Zweck pilgern oder einem gar hünenhaften Deutschen, der mit einem wahren Riesenrucksack unterwegs sein soll, macht heute wieder eine unglaubliche Geschichte die Runde: Eine ältere Schwedin - irgendjemand soll sie natürlich gestern oder vorgestern selbst gesprochen haben - soll bereits am ersten Tag ihrer Pilgerreise ihre Gruppe verloren haben. Ohne Handy oder sonstige Ideen zur Kontaktaufnahme soll sie jetztlangsam am Ende ihrer Kräfte und ihres Geldes angekommen sein. Sie wisse nicht, ob ihre Freunde vor oder hinter ihr seien. Man könnte der Dame wohl spontan ein halbes Dutzend guter Ratschläge geben, wenn es denn stimmt. Andererseits irrlichtern hier so viele verwirrte Seelen über die staubigen Landstraßen, dass es auch tatsächlich wahr sein könnte. Hier hat eben jeder sein Päckchen zu tragen.
Die schreckliche Fliegenplage macht uns den zweiten Tag hintereinander zu schaffen. Es sind die kleinen, schnellen und völlig unverscheuchbaren Biester, wie man sie aus Fernsehbildern aus Afrika kennt. Sie setzen sich ohne groß Federlesen sofort ins Gesicht, in die Ohren, auf Arme und Beine. Auch während des Gehens. Dutzende. Zahllose. Verjagt man eine, sitzen nach kürzestmöglicher Kampfkurve wieder zwei von ihnen binnen einer Viertelsekunde an anderer Stelle. Scheißviecher. Ich wedle kilometerlang und ohne Unterbrechung mit den Armen, mit dem Hut oder einem vom Wegesrand gebrochenen Ästchen. Muss man stehenbleiben, ist man von ein paar Dutzend der Biester übersäht. So müssen sich die Kuhfladen fühlen, die hier auf dem Camino haufenweise rumliegen. Die Stoppelfelder um uns herum sind alle frisch mit Jauche überzogen. Ein Seh…weg ist das hier!
Apropos frische Landluft: Immer wieder stehen ausgemusterte Wanderstiefel auf den Markierungssteinenam Rande des Camino. Die zugehörigen Pilger liegen meist halb verwest ein paar Meter weiter, sind sich Martin und ich sicher. Wir erfahrenen Camino-Jünger erkennen die Nationalität dieser Ex-Pilger inzwischen am Geruch. Die Franzosen beispielsweise duften nach Schnecken, die Deutschen natürlich nach Bier und Sauerkraut, meint Martin.
Beim Dorfrundgang und dem Nachmittagsbierchen stellt sich heraus: Hape Kerkeling hat bei seinem berühmten Caminotrip auch hier Station gemacht. Er hat in das Gästebuch der Dorfbar an der kleinen Plaza geschrieben: „Die schönste Kneipe bisher. Aber der Weg ruft. Hape Kerkeling.“ Der Wirt zeigt den Eintrag stolz jedem identifizierten Deutschen. Ich kann diese Einschätzung jetzt zwar nicht vollständig teilen, aber der Mann ist freundlich und das Bier ist kalt. Was will man mehr.
Heute Abend wird im Refugio in Castrojeriz erstmals selbst gekocht. Die Holländerin Leonie hat das Kommando in der schlichten Herbergsküche übernommen und im Mini-Tante-Emma-Laden eingekauft. Auch hier war die ältere Dame und mutmaßliche Besitzerin heute Nachmittag sehr freundlich zu uns Pilgern. Auf rund 20 Quadratmetern gibt es zwischen Bratenfleisch und Äpfeln alles, was das Herz begehrt. Ich werde von einer Dorfbewohnerin sogar vorgelassen, damit ich nicht auf das ferne Ende des alltäglichenKlatschgesprächs warten muss.
Zum Abendessen gibt es Salat, gebratene Sardinen und Reis. Martin und ich sowie die deutschen Mitpilgerinnen Simone und Ina sind eingeladen. Das gemeinsame Essen fernab vom gewohnten Pilgermenü in der kleinen und mittelmäßig versifften Pilgerküche ist lecker und lustig. Eine schöne Abwechslung zum manchmal wenig geschmacksintensiven Kneipenessen. Martin und ich machen als Dankeschön nach dem Mahl den Abwasch. Schon vor dem Benutzen des Geschirrs und der Töpfe hatte Leonie
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