Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
sieben Uhr morgens vor der Bäckerei. Da gibt es dann frisches Brot fürs Frühstück. Pilgern findet manchmal auf dem Holzweg statt .
Den Weg verlassen bringt böse Züchtigung, und wer Strafe hasst, der muss sterben. Sprüche 15.10
20. Tag von Carrion d.l.C. nach Lédigos
Heute habe ich als Pilger auf den 23 Kilometern des Tages zwei bedeutende Ereignisse erlebt. Erstens: Ich kann Bergfest feiern. Kurz vor dem Zieleinlauf in Ledigos sind 400 der 800 Kilometer absolviert - in 20 Caminotagen, darunter zwei Pausen in Pamplona und Burgos. Großartige Sache. Und die Zeit vergeht wie im Fluge - trotz Fußgängertempo. Meine Wanderschuhe zeigendeutlichen Profilverlust und mein Wanderstock hat seine zwei Zentimeter lange Aluspitze bereits fast komplett eingebüßt.
Zweitens: Wir haben heute gelernt, in die Zukunft zu blicken. Auf der schnurgeraden, altrömischen und staubigen Straße „Via Aquitana“ sieht man ständig kilometerweit voraus. Im Schneckentempo des Pilgers vergeht dann eine halbe Stunde und mehr, bis man das schon so lange anvisierte Bäumchen erreicht hat. Und so sehe ich die ganze Zeit, was in den nächsten Minuten meines Lebens passieren wird. Nämlich nichts weiter außer weiterwandern. Es sei denn, es gibt einen Meteoriteneinschlag - oder ein Erdbeben vielleicht.
Für die weiblichen Pilger und Hunde ist das wieder einmal eine Strecke, die höhere Körperbeherrschung verlangt. Es gibt nämlich weit und breit keinen Baum oder Busch, hinter den man sich hocken könnte. Wie heißt es so schön? „Geben Sie nicht immer gleich jedem Harndrang nach! „ Während wir Männer einfach 20 Meter weit ins Stoppelfeld gehen, müssen die Mädels einhalten können. Wie heißt es so schön zwischen zwei Hunden: „Wenn nicht bald ein Baum kommt, gibt es ein Unglück.“ Nur alle paar Kilometer ist mal eine wie auch immer sichtgeschützte Ecke zu finden. Hier liegt dann garantiert ein Haufen Papiertaschentücher und nicht nur ein Haufen…
Die Langsamkeit der Fortbewegung zu Fuß istja ein oft beschriebenes Phänomen in einer Zeit von Autos, Flugzeugen und schnellem Internet. Aber selbst wenn einem der Kontrast bewusst ist, verblüfft er immer wieder - und hebelt einen auf dem Camino ein bisschen aus der Realität heraus. Diese rast an einem vorbei. Es ist eine Art Parallelwelt, in der die Jakobspilger sich bewegen können. Die Autos, die an mir vorbeijagen, legen mein ganzes Tagespensum in weniger als einer halben Stunde zurück! So eine Strecke fährt man zuhause gerade mal eben zum Einkaufen oder zur Arbeit. Zu Fuß, Schritt für Schritt, gehen wir aber ganz andere Wege in der gleichen Welt. Autos werden mit der Zeit ein bisschen irreal - und sind auf dem Jakobsweg überflüssig.
Ich habe bei Reisen immer schon den Eindruck gehabt, dass alles, was schneller abläuft als Wandern, erstmal nur den Körper mitnimmt. Ich bin zwar körperlich nach zwei Stunden auf Mallorca, aber der Geist, das Bewusstsein ist noch nicht angekommen. Das hängt wie an einem langen, dehnbaren Gummiband noch irgendwo unterwegs fest und kommt erst langsam hinterhergeschnalzt. Nach ein paar Stunden oder Tagen ist man dann erst vollständig wieder an einem anderen Ende der Welt angekommen. Beim Wandern ist man aber die ganze Zeit vollständig unterwegs und macht nicht nur eine Million Schritte, sondern erfährt auch eine Million Eindrücke. Hier entsteht dann wiederum dieSchwierigkeit, die vielen Eindrücke überhaupt sortieren und bewahren zu können. Das ist aber doch eher eines dieser Luxusprobleme.
Heute früh sind Leonie, Dorothy und ich um kurz nach sieben, versorgt mit ofenwarmem Brot und Croissants, losgezogen. Dorothy ist 64, freie Theaterregisseurin und -autorin und lebt in Cardiff in Wales. Sie will auf dem Camino ein bisschen abenteuerlich leben und über ihre Pläne im Alter nachdenken, beschreibt sie ihre Motivation. Immerhin nähere sie sich ja dem Rentenalter und will nicht einsam und inkontinent enden. Sie spricht ein tolles, feines Englisch mit so vielen besonderen Wörtern, dass ich ihr gern und ehrfürchtig zuhöre. Wie arm ist doch mein zwar flüssiges, aber fehlergespicktes Pidgin-Englisch im Vergleich zu ihrer theaterreifen Sprache.
Dorothy hat ein wenig Ablenkung vom nächsten Schritt wirklich nötig. Sie hat viele Blasen an den Füßen und große Probleme mit dem Gehen. Mit zwei Alustöcken in den Händen eiert sie mühsam und langsam, aber entschlossen voran. Allerdings wird es nach ihrem Eindruck jeden Tag
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