Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
Kastiliens zu einem der anstrengenden Pilgertage.
In Villafranca checke ich in einem modernen Hostal ein und buche für morgen gleich noch dasDoppelzimmer dazu. Der Familienteil meines Camino steht unmittelbar bevor. Morgen Nachmittag werden meine Frau Beate und meine Tochter Charlotte über den Flughafen Hahn, Santiago und mit dem Bus via Ponferrada hier eintreffen. Ich freue mich riesig und bin schon sehr gespannt, ob den Zweien der Pilgerurlaub auch so gut gefallen wird, wie mir. Innerlich und online sind wir die ganze Zeit verbunden, aber vor Ort sieht das dann natürlich ganz anders aus.
Jetzt, nachdem ich fast den kompletten Camino erwandert habe, kann ich sagen, dass das vor uns liegende Galicien landschaftlich so ziemlich der schönste Teil ist. Vor drei Jahren erlebte ich im Mai eine sattgrüne Landschaft, die mal an Irland, mal an ein deutsches Mittelgebirge erinnerte. Herrliche Wälder, saftige Weiden, die uralten, knorrigen Eichen, tief in die Landschaft geschnittene Hohlwege und traumhafte Natursteindörfer führen bis fast an Santiago heran.
Eine große, starke Schweizerin überholt uns heute. Sie erzählt zwischen ihren Riesenschritten, dass sie seit St. Jean 22 Tage unterwegs ist - zehn Tage schneller als ich! Ich habe Mühe, auch nur ein paar Minuten an ihrer Seite zu bleiben. Jetzt möchte ich aber doch ergründen, welchen Rekord sie aufzustellen gedenkt. Sie wüsste gar nicht, was sie in den Städten entlang des Camino tun sollte, stellt die gehetzt wirkende Pilgerin kategorisch fest. Nach zwei Stunden habe sie immer das Gefühl,alles gesehen zu haben und will weiter. Ich lasse sie - auch notgedrungen - ihrer Wege ziehen.
Eine gewaltige innere Unruhe treibt Leute wie sie hier auf dem Weg an. Und wahrscheinlich im echten Leben auch. Warum diese Menschen auch immer auf dem Camino unterwegs sind, außer einer sportlichen Leistung und der sehr dunklen Erinnerung an viele, kurze Eindrücke bleibt da wohl nichts übrig. Zumal bei diesem Pilgern im Renntempo auch jeder tiefere Kontakt zu den Mitpilgern unterbleiben muss - man sieht ja niemanden zwei Mal. Eine traurige Vorstellung. Wer sein Pilgerdasein taktet wie eine militärische Operation, verpasst die Muße, Pilger zu sein. Für manchen hier ist der Weg das Ziel und für andere ist der Weg lediglich Verzögerung. Ich sehe mich klar im Vorteil gegenüber den Rasern: Ich habe in derselben Zeit noch die halbe Strecke vor mir.
Außerdem braucht es auch mal eine Pause: Wir sind hier die ganze Woche Pilger. Dazu noch die Wochenenden und ein Ruhetag - da bin ich ratzfatz bei einer Zehntagewoche, wenn ich nicht richtig gut aufpasse.
Gegen Mittag läuft mir Luis über den Weg, und das wird wirklich ein interessantes Gespräch mit einem der wenigen Spanier, mit denen man sich auch in Englisch unterhalten kann. Der 31-Jährige aus Barcelona ist arbeitslos, wie er gleich zu Anfang berichtet. „Ich gehöre zu dem großen Club der jungen, arbeitslosen Caminopilger“, teilt erfrustriert und in fließendem Englisch mit, das er in Großbritannien gelernt hat. Ich hatte bereits gehört und gelesen, dass die hohe Jugendarbeitslosigkeit das Pilgeraufkommen seit Jahren steigert. Viele wollen mit der Pilgerurkunde bei Bewerbungen auch ein positives Zeichen in ihren Lebenslauf setzen. Als studierter Psychologe arbeitete Luis zuletzt in der Computerbranche, bis er seinen Job verlor. Der sehr konservative junge Mann hat die sozialistische spanische Regierung tief ins Herz geschlossen, wie es scheint. Er macht sie mit deutlichen Worten für die katastrophale wirtschaftliche Situation und fast 50 Prozent Jugend-Arbeitslosigkeit in Spanien verantwortlich. Er hofft nach der vorgezogenen Neuwahl in diesem Herbst auf Besserung und Geld für die wichtigen Dinge im Land.
Luis ist ganz unkompliziert in Jeans, Sportschuhen und minimalistischem Fünf-Kilo-Rucksack unterwegs. Für ihn ist der Camino eine preiswerte Gelegenheit, mal von zuhause wegzukommen. Er ist über so manche Entwicklung in seinem Land enttäuscht, sprudelt es aus ihm heraus. Zum Beispiel das Sprachen- und Kulturwirrwarr. Er selbst, aufgewachsen im katalonischen Barcelona, hat in der Schule das Hoch-Spanische nur als erste Fremdsprache gelernt! Drei Stunden pro Woche. Katalonien strebt an, ein eigenes Land außerhalb Spaniens zu werden, und die Hauptsprache der Provinz ist deshalb Katalan. Diese Uneinigkeit derspanischen Regionen bedeutet für Jobsuchende wie Luis: Allein wegen der Sprache ist eine Arbeit in
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