Ich habe mich verträumt

vermasselt. Wie ich Wyatt Dunn jemals für eine gute Idee halten konnte, war mir schleierhaft. Ich hätte nie … Wenn ich nur … Nächstes Mal …
    Nächstes Mal? Hm. Schmerzhaft wurde mir bewusst, dass Typen wie Callahan O’Shea nicht auf Bäumen wuchsen. Dass das Schicksal mir einen wunderbaren Mann ins Nachbarhaus gesetzt und ich Wochen damit zugebracht hatte, meine Vorurteile zu pflegen. Dass ich genau wie mein Idol Scarlett O’Hara nicht erkannt hatte, was direkt vor meiner Nase war. Dass jeder Kerl, der eineinhalb Stunden Auto fährt, um mich Vom Winde verweht im Kino sehen zu lassen, zehn Mal, nein hundert Mal so viel wert war wie ein Typ, der mich zwanzig Tage vor der Hochzeit abservierte. Das wurde aber auch Zeit , hatte Callahan beim ersten Mal gesagt, als ich ihn geküsst hatte. Er hatte auf mich gewartet.
    Bei dem Gedanken daran musste ich wieder heftig schluchzen. Angus jaulte und drückte mir seinen kleinen Kopf gegen den Hals. „Ist schon gut“, sagte ich mit wenig Überzeugung. „Alles wird wieder gut.“
    Ich putzte mir die Nase, wischte meine Augen trocken und starrte in meine Küche. Es war so hübsch hier. Während ich es jetzt so ansah, fiel mir erst auf, wie perfekt es war. Alles war mit Bedacht ausgesucht worden, um über Andrew hinwegzukommen – Farben, die beruhigten, Möbel, die Andrew selbstnie gewählt hätte. Das ganze Haus war ein Schrein zur Andrew-Bewältigung.
    Und doch war es nicht Andrew, den ich jetzt überall sah, sondern Callahan. Callahan in meiner Küche, wie er mich wegen meines Pyjamas aufzog … Callahan, wie er die Skulpturen meiner Mutter schleppte … Callahan, wie er Angus abschüttelte und wie er auf die Knie sank, nachdem ich ihm mit dem Schläger eins übergezogen hatte. Wie er mir ein selbst gemachtes Omelett servierte und alles über seine Vergangenheit erzählte.
    In absehbarer Zeit würde jemand anderes das Haus nebenan kaufen. Vielleicht eine Familie oder ein älteres Ehepaar oder eine alleinstehende Frau. Oder gar ein alleinstehender Mann.
    Eines aber wusste ich. Ich wollte das nicht mit ansehen. Ohne groß darüber nachzudenken, holte ich die Visitenkarte aus der Tasche und griff zum Telefon. Als Becky Mango sich meldete, sagte ich einfach nur: „Hallo, hier ist Grace Emerson, wir haben uns gerade kennengelernt. Ich möchte mein Haus verkaufen.“

31. KAPITEL
    D ie Abschlussfeier an der Manning fand am selben Tag statt wie das traditionelle Familienessen am Vorabend von Natalies Hochzeit. Eine Woche nach unserem Gettysburg-Abenteuer endete der Unterricht, und ich gab jedem außer Kerry Blake eine Eins plus für die Teilnahme. Kerry bekam nur eine Drei, mit der sie als Endnote eine Zwei minus und die Schule sieben Anrufe ihrer erbosten Eltern erhielt. Dr. Eckharts letzte Amtshandlung als Leiter des Fachbereichs Geschichte war die Verteidigung meiner Notengebung. Ich würde den Mann wirklich vermissen.
    Mit hallenden Schritten ging ich durch den Schulflur in meinen Klassenraum, den ich am Vortag gründlich aufgeräumt hatte. Im August würde ich ein Sommerseminar über den Amerikanischen Bürgerkrieg geben, aber die nächsten zwei Monate würde ich die Schule zunächst nicht mehr betreten. Und wie am Schuljahresende üblich, bekam ich wieder mal einen Kloß im Hals.
    Ich sah mich im Zimmer um und lächelte beim Anblick des Gruppenfotos, das die gute Mallory für mich sogar hatte vergrößern und rahmen lassen. Meine Abschlussklasse, meine Erste Kavallerie. Die meisten von ihnen würde ich nie wiedersehen. Vielleicht würden mir einige in den nächsten Monaten noch ein paar E-Mails schreiben, aber schon bald würde keiner von ihnen mehr einen Gedanken an die Schulzeit verschwenden. Allerdings würde ich den Besuch einer Schlachtnachstellung verpflichtend in meinen Lehrplan aufnehmen.
    Ich betrachtete die Abdrucke der Rede von Gettysburg sowie der Unabhängigkeitserklärung, die ich all meinen Schülerinnen und Schülern jeweils am ersten Schultag laut vorlas, Jahr für Jahr. Und um den Jugendlichen ein Gefühl für die Geschichte unseres Landes zu geben, hatte ich die Wände schamlos mit Kinoplakaten vollgepinnt. Glory, Der Soldat James Ryan, Mississippi Burning, Der Patriot, Full Metal Jacket, Flags of Our Fathers – und, ein wenig verschämt, innen an der Tür Vom Winde verweht , auf dem Rhett eine skandalös tief dekolletierte Scarlett auf den Armen trug und ihr tief in die Augen blickte. Nun, da ich den Film gesehen hatte, liebte ich das Poster mehr