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Ich habe mich verträumt

Ich habe mich verträumt

Titel: Ich habe mich verträumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristan Higgins
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über der Brust und starrte sie unbeirrt an.
    Kitty und Mavis tauschten Blicke. „Nein, Grace“, antworteten sie dann einstimmig.
    „Also gut“, sagte ich. „Und nur zu eurer Information: Er saß bereits im Todestrakt. Leider hat der Gouverneur die Aussetzung des Vollzugs abgelehnt, also bin ich wieder auf der Suche.“ Ich zwinkerte, schmunzelte über ihre entsetzten Gesichter und schob mich an ihnen vorbei in eine Kabine.
    Als ich zum Tisch zurückkehrte, wollte Nat gerade gehen. „Du kannst gern eine Weile bei mir wohnen, Bumppo“, bot ich ihr an.
    „Oh, danke, Grace, das ist sehr lieb von dir. Aber ich habe Mom und Dad schon zugesagt, dass ich erst einmal bei ihnen bleibe.“
    „Soll ich dich fahren?“
    „Nein, Margs nimmt mich mit. Außerdem hast du für heute schon genug getan. Vielen Dank, dass du Andrew vertrimmt hast!“
    „War mir ein Vergnügen“, erwiderte ich in vollem Ernst. Ich gab meiner Schwester einen Kuss und nahm sie lange in den Arm. „Ruf mich morgen früh an, ja?“
    „Das werde ich. Danke“, flüsterte sie.
    Ich beschloss, ebenfalls aufzubrechen. Es schien zwar schon eine Ewigkeit her, aber ich hatte meinen betagten Freundinnen im Golden Meadows versprochen, nach der Hochzeit bei ihnen vorbeizuschauen, damit sie mein Kleid sehen und alles über den Ablauf erfahren könnten. Doch da Dad seine Mutter bereits vor dem Hauptgang ins Seniorenheim zurückgebracht hatte, wussten vermutlich alle schon Bescheid.
    Trotzdem wollte ich hinfahren. Heute fand der Samstagabend-Ball statt, und vielleicht würde ich jemanden zum Tanzen finden. Auch wenn derjenige kaum unter achtzig sein würde, war mir seltsamerweise doch nach Tanzen zumute.
    Ich fuhr quer durch die Stadt und stellte mein Auto auf dem Parkplatz des Heimes ab. Von Callahans zerbeultem Pick-up war nichts zu sehen. Seit dem Tag, als er sein Haus in der Maple Street verlassen hatte, war ich ihm nicht mehr begegnet, allerdings hatte ich einmal bei seinem Großvater vorbeigeschaut. Wie Cal bereits erwähnt hatte, ging es dem alten Mann nicht besonders gut. Wir würden das Buch wohl nicht mehr fertig lesen.
    Spontan entschied ich, Mr Lawrence auch jetzt noch einmal zu besuchen. Wer weiß? Vielleicht war Callahan ja doch da? Betsy, die diensthabende Schwester, ließ mich in den Trakt. „Den Enkel haben Sie gerade verpasst“, sagte sie mit der Hand über der Sprechmuschel ihres Telefons.
    Schade. Aber ich war ja auch nicht wegen Callahan gekommen. Langsam ging ich den Flur dieser speziellen Abteilung hinunter und hörte die vertrauten traurigen Geräusche leises Stöhnen, klagende Stimmen und viel zu viel Stille.
    Die Tür zur Mr Lawrences Zimmer stand offen. Schlafend lag er in seinem Bett und wirkte unter der blauen Decke klein und verhutzelt. An seinem Arm war der Schlauch einer Infusionsflasche befestigt, und ich spürte, wie mir die Tränen in dieAugen stiegen. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit Bewohnern dieses Heimes wusste ich, dass die Infusion normalerweise bedeutete, dass der Patient nichts mehr aß und trank.
    „Hallo Mr Lawrence, hier ist Grace“, flüsterte ich und setzte mich neben ihn. „Die Ihnen immer vorgelesen hat, erinnern Sie sich? Lord Bartons Begehren? Der Lord und die Hure?“
    Natürlich antwortete er nicht. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich die Stimme von Callahans Großvater nie gehört. Ich fragte mich, wie sie wohl geklungen hatte, als er noch jung gewesen war und Callahan und seinem Bruder das Fliegenfischen beigebracht, ihnen bei den Hausaufgaben geholfen, sie zum Gemüseessen und Milchtrinken ermahnt hatte.
    „Hören Sie, Mr Lawrence.“ Ich legte meine Hand auf seinen dünnen Arm. „Ich wollte Ihnen etwas sagen. Ich war eine Weile mit Ihrem Enkel zusammen, Callahan. Und ich habe es vermasselt, sodass er mit mir Schluss gemacht hat.“ Ich verdrehte die Augen – eigentlich hatte ich kein Geständnis am Totenbett geplant gehabt. „Jedenfalls wollte ich Ihnen sagen, dass er ein ganz wunderbarer Mann ist.“
    Ich bekam einen Kloß im Hals und musste flüstern. „Er ist klug und lustig und rücksichtsvoll, und er arbeitet sehr fleißig, wissen Sie das? Sie sollten das Haus sehen, das er gerade renoviert hat! Das hat er ganz fantastisch gemacht!“ Ich hielt inne. „Und er liebt Sie wirklich sehr. Er kommt immer hierher. Und er … na ja, er sieht wirklich gut aus. Der Apfel ist da wohl nicht weit vom Stamm gefallen, schätze ich.“
    Es war kaum zu hören, ob Mr Lawrence noch atmete.

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