Ich habe mich verträumt
Ich nahm seine knorrige, kühle Hand und hielt sie eine Weile fest. „Ich wollte nur noch sagen, dass Sie ihn ganz wunderbar erzogen haben. Sie können wirklich stolz auf ihn sein. Das ist alles.“
Dann beugte ich mich vor und drückte Mr Lawrence einen Kuss auf die Stirn. „Ach, eines noch: Der Lord heiratet Clarissia am Ende. Er findet sie in dem Turm und rettet sie und sie leben … na, Sie wissen schon … glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“
„Was machst du denn hier, Grace?“
Ich fuhr zusammen, als hätte mir jemand ein Brandeisen aufs Fleisch gedrückt. „Mémé! Meine Güte, hast du mich erschreckt!“, flüsterte ich.
„Ich habe dich gesucht. Dolores Barinski hat gesagt, du wolltest zum Tanzabend kommen, und der hat schon vor einer Stunde angefangen.“
„Richtig.“ Ich warf einen letzten Blick auf Mr Lawrence. „Dann lass uns mal gehen.“
Ich schob meine Großmutter durch den Gang, fort von der einzigen Verbindung, die ich noch zu Callahan O’Shea hatte, und ahnte, dass ich Mr Lawrence wohl nicht mehr wiedersehen würde. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich schniefte.
„Ach, sei doch nicht traurig“, krächzte Mémé autoritär aus ihrem Thron. „Wenigstens hast du mich noch! Der Mann ist noch nicht mal mit dir verwandt. Ich weiß nicht, warum du da überhaupt immer hingegangen bist.“
Ich blieb stehen und ging um den Rollstuhl herum, damit ich meiner Großmutter ins Gesicht sagen konnte, was für eine schreckliche Nervensäge sie war– wie selbstgefällig und gemein, egoistisch und unsensibel. Aber als ich dann ihr dünnes Haar und das runzlige Gesicht sah und die mit Altersflecken übersäten Hände mit den zu groß gewordenen Ringen, brachte ich es nicht übers Herz.
„Ich hab dich lieb, Mémé!“
Überrascht sah sie auf. „Was ist denn heute mit dir los?“ „Nichts. Ich wollte es dir nur sagen.“
Sie atmete tief durch und runzelte die Stirn, was ihr Gesicht noch faltiger machte. „Tja. Können wir jetzt weiter?“
Ich lächelte, stellte mich wieder hinter den Rollstuhl und schob Mémé in den Tanzsaal. Der Abend war in vollem Gang, und ich tanzte mit allen, die ich kannte, und mit anderen, die ich noch nie gesehen hatte. Sogar Mémé drehte ich ein paar Runden im Kreis, bis sie mich anzischte, ich würde mich lächerlich machen und ob ich im Country Club zu viel getrunken hätte. Also schob ich sie wieder an den Rand. Später. Nach zwei Liedern.
Alle bewunderten mein Kleid, tätschelten mir die Hände, und selbst meine Frisur erntete Lob. Ich war beinahe glücklich. Nat hatte ein gebrochenes Herz, und meines war auch nicht gerade in Bestzustand. Ich hatte etwas Wunderbares und Seltenes mit Callahan O’Shea zerstört und mich durch einen erfundenen Freund vor meiner Familie zum Affen gemacht. Aber es war okay. Also, das mit dem Affen war okay. Callahan allerdings würde ich sicher noch sehr, sehr lange vermissen.
34. KAPITEL
A ls ich vom Seniorenheim nach Hause kam, war es fast zehn Uhr. Angus präsentierte mir zwei Rollen zerfetztes Klopapier und trottete dann in die Küche, um mir zu zeigen, wo er ein paar Papierknäuel ausgewürgt hatte. „Immerhin hast du auf die Fliesen gespuckt“, lobte ich ihn und streichelte seinen Kopf. „Danke, dass du in die Küche gegangen bist.“ Er bellte ein Mal und streckte sich dann in Superhund-Pose aus, um mir beim Aufwischen zuzusehen.
„Ich hoffe, dir wird unser neues Haus gefallen“, sagte ich, während ich die leider allzu vertrauten Gummihandschuhe überstreifte, die ich immer nahm, wenn Angus … äh, einen Unfall hatte. „Aber ich suche uns ein ganz tolles Haus aus, keine Sorge.“ Angus wedelte mit dem Schwanz.
Gestern hatte Becky Mango angerufen. „Ich weiß, das klingt vielleicht komisch“, sagte sie, „aber ich habe mich gefragt, ob Sie wohl an dem Haus nebenan interessiert wären. Das Callahan renoviert hat? Es ist einfach zauberhaft.“
Ich hatte gezögert. Ich liebte das Haus – oh ja! Aber ich wohnte nun schon in einem Haus, das mich immer an eine gescheiterte Beziehung erinnerte. Cals Haus zu kaufen, auch wenn es in etwa dasselbe kostete wie meines, hätte aus mir doch zu sehr eine Miss Havisham wie in Große Erwartungen gemacht, die bis zum Tod ihrer großen Liebe nachtrauerte. Nein. Mein nächstes Haus sollte meine Zukunft betreffen, nicht meine Vergangenheit. „Stimmt’s, Angus?“ Er bellte seine Zustimmung, rülpste dann und legte sich auf den Rücken, wohl um anzudeuten, ich könnte
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