Ich habe mich verträumt
Elternmitarbeit und fächerübergreifende Themen aufgelistet hatte, inklusive Farbtafeln, Fotos, Grafiken und Tabellen. Das Ganze hatte ich bei Kinko’s in zehnfacher Ausfertigung drucken und binden lassen. Mr Graystone hatte seine Broschüre noch nicht einmal geöffnet. Verdammt. Seinem Sohn Hunter hatte ich im Zwischenzeugnis eine Zwei gegeben (was sehr fair war, das kann ich Ihnen sagen), und bei meiner Begrüßung vor etwa einer Stunde hatte Mr Graystone mich genau an diese Tatsache erinnert. „Warum fassen Sie nicht einfach alles für uns zusammen, Ms Emerson?“
Dr. Eckhart sah auf – zum Glück war er doch nicht eingeschlafen –, und nickte mir aufmunternd zu.
„Gern.“ Ich versuchte zu lächeln. „Tja, in Kürze könnte man es folgendermaßen zusammenfassen.“ Ich atmete tief durch und beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich möchte, dass dieSchüler der Manning den Einfluss der Geschichte auf die heutige Zeit begreifen. Ich möchte die Vergangenheit für sie lebendig machen, damit sie verstehen, durch welche Opfer wir an den Punkt gelangt sind, an dem wir heute stehen.“ Ich sah alle Kuratoren einzeln an, damit sie spürten, wie sehr ich in meinem Unterrichtsfach aufging. „Ich möchte, dass unsere Schülerinnen und Schüler von der Vergangenheit lernen, und zwar eindringlicher, als es mit dem Auswendiglernen von Fakten geschieht. Ich will, dass sie spüren, wie sich die ganze Welt aufgrund der Tat eines einzelnen Menschen verändern kann, ob es nun Heinrich VIII. war, der eine neue Religion gründete, oder Dr. King, der sich vor dem Lincoln Memorial für Gleichberechtigung einsetzte.“
„Und wer ist Dr. King?“, wollte Adelaide wissen.
Mir fiel die Kinnlade herunter. „Martin Luther King jr.? Der afroamerikanische Bürgerrechtler?“
„Natürlich. Richtig, fahren Sie fort.“
Um mich zu beruhigen, atmete ich wieder tief durch und fuhr fort: „So viele Jugendliche fühlen sich schon nicht mehr der jüngsten Vergangenheit verbunden, spüren keine Verbindung zu den Grundsätzen ihres Staates und leben in einer Welt, in der sie viel zu sehr von wahrhaften Erkenntnissen abgelenkt sind. Textnachrichten, Computerspiele, Online-Chatten … das alles hindert sie daran, die heutige Welt und das wahre Leben zu begreifen. Dabei müssen sie verstehen, wie wir vom Damals zum Heute gekommen sind. Das müssen sie unbedingt! Denn unsere Vergangenheit bestimmt unsere Zukunft – als Individuen, als Staat, als Welt . Sie müssen die Vergangenheit verstehen, weil diese Kinder und Jugendlichen die Zukunft sind.“
Mein Herz klopfte, mein Gesicht brannte, meine Hände zitterten. Ich atmete tief ein und faltete meine verschwitzten Hände. Ich war fertig.
Niemand sagte etwas. Kein Wort. Es herrschte Schweigen, und zwar unangenehmes. Wären wir im Freien gewesen, hätte man sicher die sprichwörtlichen Grillen zirpen gehört.
„Hm … Sie denken also, dass Kinder unsere Zukunft sind“,sagte Theo und unterdrückte dabei ein Grinsen.
Ich schloss kurz die Augen. „Ja“, antwortete ich, „das sind sie. Und sie werden hoffentlich die Fähigkeit haben, nachzudenken, wenn das Schicksal sie dazu beruft, zu handeln. Also, dann …“ Ich stand auf und schob meine Unterlagen zusammen. „Vielen Dank für Ihre Zeit.“
„Das war … sehr interessant“, sagte Adelaide. „Tja, dann … viel Glück.“
Mir wurde versichert, dass ich Nachricht bekäme, wenn ich in die zweite Bewerbungsrunde aufgenommen würde. Natürlich würden sie die Stelle auch extern ausschreiben, bla, bla, blubb, Rhabarber, Rhabarber. Was die nächste Runde betraf, so sah ich meine Chancen als zweifelhaft. Bestenfalls zweifelhaft.
Der Inhalt meiner leidenschaftlichen Ansprache verbreitete sich offenbar schnell, denn als ich später am Tag Ava im Lehrerzimmer traf, schmunzelte sie hintergründig. „Hallo Grace.“ Blinzel … blinzel … und warten … ja, da war es: blinzel. „Wie ist denn deine Präsentation gelaufen?“
„Ach, ganz toll“, log ich. „Sehr positiv.“
„Schön für dich“, murmelte sie, ging zum Waschbecken, spülte ihren Kaffeebecher aus und sang dabei „I believe the children are our future …“ von Whitney Houston.
Ich knirschte mit den Zähnen. „Wie lief es denn bei dir, Ava? Meinst du, dein Push-up-BH hat die Kuratoren zu deinen Gunsten beeinflusst?“
„Ach, Grace, du tust mir leid“, erwiderte sie, während sie sich neuen Kaffee einschenkte. „Es ist nicht mein Dekolleté, das sie
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