Ich habe sie geliebt
Speisekarte weggelegt, da brach sie bereits in Tränen aus.
Sie wußte alles. Daß die andere Frau jünger war. Sie wußte, wie lange es schon ging, und hatte begriffen, wieso ich immer weg war. Sie konnte es nicht länger ertragen. Ich sei ein Scheusal. Ob sie soviel Verachtung verdient hätte? Ob sie es verdient hätte, so behandelt zu werden? Wie eine Schlampe? Am Anfang hätte sie ein Auge zugedrückt. Sie hatte wohl etwas geahnt, mir aber vertraut. Sie hatte gedacht, es sei eine Anwandlung, etwas Vorübergehendes, der Wunsch, noch einmal zu gefallen. Eine Befriedigung meiner Männlichkeit. Und dann war da noch meine Arbeit. Meine zeitraubende Arbeit, meine schwere Arbeit. Und sie, sie war von der Einrichtung unseres neuen Hauses völlig in Anspruch genommen. Sie hatte sich nicht um alles gleichzeitig kümmern, an allen Fronten gleichzeitig kämpfen können! Sie hatte mir vertraut! Danach war ich krank geworden, und sie hatte wiederum ein Auge zugedrückt. Aber jetzt, jetzt konnte sie es nicht länger ertragen. Nein, sie konnte mich nicht länger ertragen. Meinen Egoismus, meine Verachtung, die Art, wie … In dem Augenblick kam der Kellner, und in weniger als einer halben Sekunde hatte sie eine andere Maske aufgesetzt. Sie lächelte ihm zu und fragte ihn etwas zu irgendwelchen Tortellini. Ich war fasziniert. Als er sich mir zuwandte, stotterte ich ein kopfloses ›W… Wie Madame‹. Nicht eine Sekunde lang hatte ich an diese verfluchte Karte gedacht, glaub mir. Nicht eine Sekunde lang.
In diesem Augenblick wurde mir klar, wie stark Suzanne ist. Wie unglaublich stark. Die Dampfwalze ist sie . In dem Augenblick wurde mir klar, daß sie bei weitem die robustere von uns beiden ist und daß nichts ihr wirklich etwas anhaben konnte. Im Grunde war es nichts als eine dumme Lücke in ihrem Zeitplan. Sie suchte Streit, weil ihr Haus am Meer fertig war. Nachdem der letzte Rahmen aufgehängt, die letzte Gardinenstange angebracht war, hatte sie sich endlich mir zugewandt und war entsetzt über das, was sie vorfand.
Ich gab kaum Antwort, verteidigte mich fast nicht, ich sagte es schon, ich hatte Mathilde zu diesem Zeitpunkt bereits verloren.
Ich sah, wie sich meine Frau auf der anderen Seite des Tischs in einer drittklassigen Pizzeria im 15. Arrondissement von Paris erregte, und ich hatte den Ton abgestellt.
Sie fuchtelte mit den Armen, ließ dicke Tränen über ihre Wangen kullern, schneuzte sich und wischte ihren Teller mit Brot aus. Unterdessen wickelte ich unentschlossen zwei oder drei Spaghetti um meine Gabel, ohne daß ich es geschafft hätte, sie je zum Mund zu führen. Auch ich verspürte den Drang zu heulen, aber ich habe mich beherrscht …«
»Wieso hast du dich beherrscht?«
»Erziehungssache, glaube ich. Und außerdem fühlte ich mich noch sehr verletzlich. Ich durfte nicht riskieren, mich gehenzulassen. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht mit ihr. Nicht in dieser Kaschemme. Ich war – wie soll ich es dir erklären – so zermürbt.
Anschließend hat sie mir erzählt, sie habe eine Rechtsanwältin konsultiert, um ein Scheidungsverfahren einzuleiten. Ich wurde plötzlich hellhörig. Eine Rechtsanwältin? Suzanne verlangte die Scheidung? Ich hatte nicht gedacht, daß die Dinge schon so weit gediehen wären, daß sie in dem Maße verletzt war. Sie hatte die Frau schon einmal aufgesucht, die Schwägerin einer ihrer Freundinnen. Sie hatte lange gezögert, aber bei der Rückkehr von einem Wochenende hier draußen hatte sie den Entschluß gefaßt. Es war im Auto gewesen, auf der Rückfahrt, als ich nur einmal das Wort an sie gerichtet hatte, um zu fragen, ob sie Kleingeld für die Autobahnmaut habe. Es war eine Art russisches Roulette in der Ehe, das sie sich ausgedacht hatte: Wenn Pierre mit mir redet, bleibe ich, wenn er nicht mit mir redet, lasse ich mich scheiden.
Ich war verwirrt. Ich wußte nicht, daß sie etwas von einem Spieler hatte. Sie hatte wieder ein bißchen mehr Farbe im Gesicht und sah mich jetzt selbstbewußter an. Natürlich, sie hatte so richtig ausgepackt. Meine Reisen, die immer länger wurden, immer zahlreicher, mein Desinteresse am Familienleben, meine Kinder, die ich nicht wahrnahm, die Zeugnishefte, die ich nie unterschrieben hatte, die verlorenen Jahre, in denen sie alles um mich herum gemanagt hatte. Für mein Wohl, für die Firma. Die Firma, die ganz nebenbei bemerkt ihrer Familie gehörte, also ihr, und für die sie persönlich alles geopfert hatte. Wie sie sich bis zum Ende um meine
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