Ich habe sie geliebt
stimmt’s? Das ist verletzend, aber ich kann es verstehen, ich kann die Vorwürfe verstehen, die man mir macht. Ich kann sie verstehen, aber ich habe keine Lust, mich zu verteidigen. Das ist übrigens genau das Problem. Aber Verachtung, nein, das glaube ich nicht. So merkwürdig es dir auch vorkommen mag, ich glaube, daß mein Schweigen eher von einer gewissen Schüchternheit kommt. Ich liebe mich selbst nicht genug, um meinen Worten irgendeinen Wert beizumessen. Erst denken, dann reden, heißt es. Ich überlege immer zu lange. Ich entmutige die anderen. Bevor ich Mathilde kannte, habe ich mich nicht geliebt, und seitdem liebe ich mich noch weniger. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, daß ich so hart bin.«
Er hatte sich wieder hingesetzt.
»Ich bin hart bei der Arbeit, aber dort spiele ich eine Rolle, verstehst du? Es ist meine Pflicht, hart zu sein. Es ist meine Pflicht, ihnen vorzuspielen, ich sei ein erbarmungsloser Chef. Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn sie hinter mein Geheimnis kämen? Wenn sie wüßten, daß ich schüchtern bin? Daß ich dreimal soviel arbeiten muß wie alle anderen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen? Daß ich ein schlechtes Gedächtnis habe? Daß ich schwer von Begriff bin? Kannst du dir das vorstellen? Wenn sie das alles wüßten, würden sie mich auf der Stelle lynchen!
Und außerdem tue ich mich schwer damit, geliebt zu werden. Ich habe kein Charisma, wie man so schön sagt. Wenn ich eine Gehaltserhöhung ankündige, tue ich es in schroffem Ton, wenn man sich bei mir bedankt, antworte ich nicht, wenn ich spontan eine freundliche Geste machen will, halte ich an mich, und wenn ich eine gute Neuigkeit zu verbreiten habe, beauftrage ich Françoise damit. Auf der Managementebene, auf der Ebene des Humankapitals, wie man heute sagt, bin ich eine Katastrophe. Eine wahre Katastrophe.
Françoise war es auch, die mich gegen meinen Willen zu einem Lehrgang für verknöcherte Chefs angemeldet hat. Was für ein Quatsch. Zwei Tage im Concorde La Fayette an der Porte Maillot eingesperrt, um den demagogischen Brei einer Psycholady und eines übererregten Amerikaners zu schlucken. Zum Schluß hat er sein Buch verkauft. Be the Best and Work in Love hieß es. Mein Gott, was für ein Schwindel, wenn ich nur daran denke.
Am Ende des Lehrgangs erhielten wir, das weiß ich noch genau, eine Urkunde: ›Der verständnisvolle und umgängliche Chef‹. Ich habe sie Françoise geschenkt, die sie an die Innentür des Schranks geheftet hat, in dem unsere Putzmittel und Klopapierrollen aufbewahrt werden.
›War es gut?‹ hat sie gefragt.
›Es war erbärmlich.‹
Sie hat gelächelt.
›Hören Sie, Françoise‹, habe ich hinzugefügt, ›Sie, die Sie hier herrschen wie der Allmächtige selbst, sagen Sie allen, die es interessiert, daß ich kein liebenswerter Mensch bin, aber daß sie nie um ihre Stelle fürchten müssen, weil ich nämlich sehr gut kopfrechnen kann.‹
›Amen‹, hat sie gemurmelt und den Kopf gesenkt.
Aber es ist wahr. Während meiner ganzen fünfundzwanzigjährigen Tyrannei habe ich keinen einzigen Streik erlebt und noch nie einen Menschen entlassen. Auch als die Zeiten Anfang der 90er Jahre ziemlich schwierig waren, habe ich niemanden entlassen. Niemanden, hörst du?«
»Und Suzanne?«
»…«
»Warum bist du ihr gegenüber so hart?«
»Findest du mich hart?«
»Ja.«
»Hart inwiefern?«
»Hart.«
Er stützte von neuem seinen Kopf auf den Sessel.
»Als Suzanne merkte, daß ich sie betrüge, betrog ich sie schon lange nicht mehr. Ich hatte – das erzähle ich dir später … Damals wohnten wir in der Rue de la Convention. Ich mochte die Wohnung nicht. Ich mochte die Art nicht, wie sie die Wohnung eingerichtet hatte. Ich erstickte darin. Zu viele Möbel, zuviel Nippes, zu viele Fotos von uns, zuviel von allem. Warum erzähle ich das, es spielt eigentlich gar keine Rolle. Ich ging in diese Wohnung, um zu schlafen, und weil meine Familie dort wohnte. Punktum. Eines Abends bat sie mich, mit ihr Essen zu gehen. Wir gingen in ein Lokal unten bei uns im Haus. Eine schäbige kleine Pizzeria. In dem Neonlicht sah sie schrecklich aus. Und ihre beleidigte Miene machte die Sache nicht besser. Es war grausam, aber es war keine Absicht gewesen, weißt du. Ich hatte die Tür zur erstbesten Kneipe aufgestoßen … Ich ahnte schon, was passieren würde, und hatte keine Lust, allzu weit von meinem Bett entfernt zu sein. Und in der Tat dauerte es nicht lange. Kaum hatte sie die
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