Ich habe sie geliebt
Kotzbrocken. Ein alter Kotzbrocken in den Augen einer der wenigen Personen, für die ich so etwas wie Achtung hege. Eine schöne Bescherung.
Ich hatte viele Feinde. Damit will ich mich nicht brüsten, aber ich beklage mich auch nicht, es ist mir schlicht gleichgültig. Aber Freunde – Menschen, denen ich gefallen möchte? Ganz wenige nur, ganz wenige … Unter anderem dich. Dich, Chloé, weil du wie für das Leben geschaffen bist. Weil du es am Schopf packst. Du bewegst dich, du tanzt, du bist der Mittelpunkt in einem Haus. Du hast diese herrliche Gabe, Menschen um dich herum glücklich zu machen. Du fühlst dich so wohl, so richtig wohl auf diesem kleinen Planeten …«
»Ich habe das Gefühl, wir sprechen nicht von der gleichen Person.«
Er hörte mich nicht.
Er saß ganz aufrecht. Er sagte nichts mehr. Er hatte die Beine nicht übereinandergeschlagen. Sein Glas hatte er auf den Oberschenkeln abgestellt.
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.
Sein Gesicht befand sich im Schatten des Sessels.
»Ich habe eine Frau geliebt. Ich rede nicht von Suzanne, ich rede von einer anderen.«
Ich hatte die Augen wieder geöffnet.
»Ich habe sie mehr als alles andere geliebt. Mehr als alles andere … Ich wußte nicht, daß man so sehr lieben kann. Zumindest, was mich betrifft, hatte ich nicht geglaubt, daß ich – überhaupt dazu in der Lage wäre, auf diese Weise zu lieben. Liebeserklärungen, schlaflose Nächte, verheerende Leidenschaft, das war etwas für die anderen. Übrigens, allein schon das Wort Leidenschaft ließ mich höhnisch auflachen. Leidenschaft, Leidenschaft! Das rangierte für mich zwischen Hypnose und Aberglaube. In meinem Mund war es fast ein Schimpfwort. Und dann traf es mich in einem Moment, in dem ich am wenigsten damit gerechnet habe. Ich – ich habe eine Frau geliebt.
Ich habe mich verliebt, wie man sich eine Krankheit einfängt. Ohne es zu wollen, ohne daran zu glauben, gegen meinen Willen und ohne die Kraft, mich dagegen zu wehren, und dann …«
Er räusperte sich.
»Und dann habe ich sie verloren. Auf die gleiche Weise.«
Ich saß reglos da. Ein Amboß hatte meinen Kopf getroffen.
»Sie hieß Mathilde. Sie heißt übrigens immer noch Mathilde. Mathilde Courbet. Wie der Maler.
Ich war zweiundvierzig und fühlte mich bereits alt. Ich habe mich im Grunde schon immer alt gefühlt. Paul war jung gewesen. Paul wird immer jung und schön bleiben.
Aber ich bin Pierre. Der Strebsame, der Fleißige.
Mit zehn Jahren hatte ich schon das gleiche Gesicht wie heute. Den gleichen Haarschnitt, die gleiche Brille, die gleiche Gestik, die gleichen Macken. Bestimmt habe ich schon mit zehn für den Käse einen neuen Teller genommen.«
Ich lächelte ihm im Dunkeln zu.
»Zweiundvierzig – was für Erwartungen hat man mit zweiundvierzig an das Leben?
Ich, keine. Ich hatte keine Erwartungen. Ich arbeitete. Arbeitete und arbeitete, pausenlos. Das war mein Tarnanzug, meine Rüstung, mein Alibi. Mein Alibi, um nicht zu leben. Einfach so vor mich hinleben, das mochte ich nicht. Ich war der Meinung, ich wäre dafür nicht geeignet.
Ich dachte mir Schwierigkeiten aus und Gipfel, die es zu erklimmen galt. Sehr hohe. Sehr schroffe. Dann krempelte ich die Ärmel hoch. Erklomm die Gipfel und dachte mir neue aus. Dabei war ich nicht ehrgeizig, nur phantasielos.«
Er nahm einen Schluck.
»Ich – ich kannte das alles nicht, weißt du – Mathilde hat es mir beigebracht. Ach, Chloé, wie sehr habe ich sie geliebt – wie sehr habe ich sie geliebt – bist du noch da?«
»Ja.«
»Hörst du mir zu?«
»Ja.«
»Geh ich dir auf die Nerven?«
»Nein.«
»Willst du schlafen gehen?«
»Nein.«
Er war aufgestanden, um ein Holzscheit nachzulegen. Er kauerte vor dem Kamin.
»Weißt du, was sie mir vorgeworfen hat? Sie hat mir vorgeworfen, zu geschwätzig zu sein. Kannst du dir das vorstellen? Ich – zu geschwätzig! Unglaublich, oder? Aber es ist wahr. Ich legte meinen Kopf auf ihren Bauch und redete los. Ich redete stundenlang. Tagelang sogar. Ich hörte, wie meine Stimme unter ihr ganz feierlich klang, und das gefiel mir. Eine endlose Mühle aus Worten. Ich schüttete sie zu. Ich ertränkte sie. Sie lachte. Sie sagte, psst, rede nicht so viel, ich kann dir nicht mehr zuhören. Warum redest du so viel?
Ich hatte zweiundvierzig Jahre des Schweigens aufzuholen. Zweiundvierzig Jahre lang hatte ich geschwiegen, hatte ich alles für mich behalten. Was hast du vorhin gesagt? Daß mein Schweigen an Verachtung grenze,
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