Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
Zauberer, der von überall verschwinden konnte, nur nicht von diesem Ort); wie er den Gefängnisfraß in sich hineinlöffelt und dazu das Früchtebrot-Rezept seiner Großmutter herunterbetet; wie er sich – genau wie White eben – über das graue Haar streicht, während er auf den Psychologen wartet oder den Therapeuten oder den Bibliothekswagen; und ich habe das Gefühl, ihn zu kennen, ihn wirklich zu kennen. »Ich bin ihm nie begegnet, falls Sie das meinen.«
Es ist, als hätte jemand das Licht ausgemacht. White kann ihre Enttäuschung nicht verbergen.
Jetzt übernimmt O’Shea in dieser chaotischen Befragung die Führung. »Montagabend …«
Ich zucke die Achseln. »Wahrscheinlich ist er zu ganz normaler Zeit heimgekommen. Halb acht, vielleicht auch etwas später, denn montags ist meistens viel los. Das wäre dann so was wie neun, halb zehn gewesen.«
»Könnten Sie das etwas genauer sagen?«, fragt O’Shea.
Darauf, dass sie sich in solche Einzelheiten verbeißen, bin ich nicht vorbereitet. Ich sehe, wie sie alles, was ich sage, notieren, und spüre Unentschlossenheit meinen Rücken hochkriechen. Die Tür geht auf. Josh kommt herein, seine Kiefer bearbeiten ein Kaubonbon. »Tut mir leid, aber ich möchte nicht so gern einen genauen Zeitpunkt nennen, weil ich mich da auch täuschen könnte.« Mein Kalkül ist, dass ich ihm auf diese Weise Rückendeckung gebe – auch für die Zeit, nachdem er mit Lex was getrunken hat – und zugleich mit dieser vagen Aussage demonstriere, dass ich völlig unbesorgt bin.
»Darf ich Ihr Funkgerät mal haben?«, fragt Josh.
»Josh! Die Frauen machen hier ihre Arbeit.«
White schaltet ihr Gerät wieder ein und gibt es ihm.
»Das ist sooo cool«, sagt er, dreht das Teil hin und her und berührt vorsichtig die Antenne.
O’Shea steht auf. Sie gibt mir eine Visitenkarte. »Wir brauchen eine Aussage von Ihrem Mann.«
»Natürlich, er wird sehr gern helfen.« Ich stehe ebenfalls auf und gehe voran in den Flur. Dabei sehe ich mir die Karte an.
»Was für ein Auto fährt Ihr Mann?«, fragt sie weiter. Ich nenne ihr Marke und Kennzeichen und Farbe, dunkelblau. »War er am Montag mit dem Wagen unterwegs?«
Einen Moment lang sage ich gar nichts; da war ich nicht wachsam. Diese Frage könnte noch wichtig werden, und ich habe nicht gründlich genug über die richtige Antwort nachgedacht. »Normalerweise fährt er nicht mit dem Auto zur Arbeit, deshalb glaube ich es eigentlich nicht. Die meiste Zeit steht es in unserer Einfahrt.«
Sie streckt die Hand nach der Türklinke aus.
»Glauben Sie, dass es sich um einen Trittbrettfahrer handelt?«, frage ich leise.
O’Shea mustert mich mit kalten, hellen Augen. Ich bezweifle, dass sie bei Friends Reunited als »warmherzig, lustig und humorvoll« beschrieben wird. »Ich glaube gar nichts. Ich lasse die Tatsachen für sich sprechen.«
Ich schlucke. Aus der Küche höre ich das leise Summen der Waschmaschine.
14
I ch bin mit einer leeren Flasche Baileys auf dem Sofa aufgewacht. Es ist halb zwölf. Keine Ahnung, wie oft ich Paul angerufen und wie viele SMS ich ihm geschickt habe, seit die Polizistinnen weg sind. Ich weiß nicht mehr, was ich empfunden habe, als ich sie davonfahren hörte. Ich schwanke zur Toilette, stoße mir die Hüfte am Türknauf und übergebe mich, schlotternd und fröstelnd, in die Schüssel. Eigentlich mag ich Baileys gar nicht. Um wieder etwas in Form zu kommen, spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Paul ist nicht da, das spüre ich; ohne ihn fühlen sich die Räume leerer an, sind die Farben matter. Was heute passiert ist, erscheint mir unwirklich. Ich habe im Beisein meiner Kinder die Polizei belogen. Unglaublich. Damit bin ich weiter gegangen, als ich mir jemals zugetraut hätte. Ein Rinnsal kaltes Wasser läuft zwischen meine Brüste; ich erschauere. Und es war so einfach. Mit Sicherheit kann Paul ebenfalls die heftigsten Lügen erzählen, was bleibt ihm auch übrig? Ein Stich ins Herz.
Tränen laufen mir über die Wangen, während ich nach einem Aspirin suche und mich abmühe, wieder Tritt zu fassen. Ein Blick auf das Handy. Paul hat weder angerufen noch eine SMS geschickt. Betrunken bin ich weinerlich, brauche jemanden zum Anlehnen; trotz all der Tricksereien heute sehne ich ihn verzweifelt herbei. Wenn er mich doch in die Arme schließen, auf seinen Schoß ziehen und wie ein Kind über meine Lüge hinwegtrösten könnte! Das Handy klingelt, und halb blind vor Tränen nehme ich den Anruf an, um
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