Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
mich bei Paul auszuweinen. Aber es ist Jessie. Sie meldet sich aus einer Bar.
»Du bist noch wach, super! Ich bin schon den ganzen Abend am Telefonieren. Du, ich krieg eine Einzelausstellung in Shoreditch, ist das nicht toll?!« Ich nicke, bringe aber keinen Ton heraus. »Kate? Verstehst du mich?« Im Hintergrund höre ich Betrunkene johlen.
»Ja.«
»Ich hab dir doch von dem Agenten erzählt, der sich die letzte Ausstellung angesehen hat, weißt du noch? Na ja, der will mich jetzt ›auf die nächste Ebene heben‹.« Sie äfft einen amerikanischen Akzent nach.
»Wow.«
»Das Entscheidende ist, dass die Galerie ein paar zahlungskräftige Stammkunden hat. Ein Typ, dem halb Sainsbury gehört, will für den Anfang zwei Bilder kaufen – für den Anfang! Irre, oder? Ach, ich bin so happy! Hallo? Ist bei dir alles okay?« Ich kann mich nicht länger beherrschen und heule einfach los. »Kate! Was ist denn?«
»Nichts, nichts. Ehrlich, ich freue mich riesig für dich.« Ihre Freude soll nicht durch die hässlichen Details meines Stimmungstiefs getrübt werden.
»Ganz sicher?« Stampfende Rhythmen übertönen ihre Stimme. »Weinst du?«
»Nein, ich bin nur erkältet.« Die Lügen kommen mir nur so über die Lippen.
»Warte einen Moment.« Die Musik wird leiser, Jessie ist anscheinend nach draußen gegangen. »Was ist los?«
»Gar nichts, sag ich doch, alles ist gut. Das sind ja wirklich tolle Nachrichten.«
»Ja. Es ist eine von den großen Galerien im East End. Die geben mir sogar einen Vorschuss, kannst du dir so was vorstellen? Jetzt ist Schluss mit dem Geld-für-Leinwand-Schnorren und diesem ganzen Mist.«
Ich müsste lachen, mich mit ihr freuen, mich von ihrer Begeisterung anstecken lassen – das ist das, worauf sie seit über zwanzig Jahren hingearbeitet und gehofft hat, wofür sie Tausende Wodka-Cranberrys serviert und Bierlachen von Tischen gewischt hat. Endlich ist es so weit, dass ihre Träume in Erfüllung gehen, und seit fünfzehn Jahren wünsche ich mit ihr diesen Augenblick herbei. Doch statt zu jubeln, krächze ich nur verzweifelt. »Ich freue mich so für dich, Jessie, ehrlich.« Und fange wieder an zu schluchzen.
»Du weinst doch! «
»Ja, vor Rührung. Weil du endlich belohnt wirst für das jahrelange Kämpfen.«
Sie kichert. »Das ist der schönste Tag in meinem Leben.« Und dann bricht ihr die Stimme, weil sie plötzlich selbst gerührt ist. »Du hast immer an mich geglaubt, Kate, und mich unterstützt. Dafür bin ich dir so dankbar.«
»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Ich hab immer gewusst, dass du es schaffst. Du hast so hart gearbeitet – wer hätte den Erfolg verdient, wenn nicht du?« Und dann heulen wir beide ins Telefon.
»Weißt du, was heute außerdem noch passiert ist? Mr. Verheiratet hat gesagt, dass er mich liebt! Er war hier und hat mit uns gefeiert – na ja, jetzt ist er gerade gegangen …« Sie redet und redet, während ich die Neuigkeiten noch verdaue. Ich freue mich für Jessie, ehrlich, aber tief in mir drin regt sich schreckliche Angst. Sie hat das Aufregendste in jeder Hinsicht noch vor sich, mich aber beschleicht der Verdacht, dass ich alles hinter mir habe und nichts Neues mehr in Sicht ist. Sie hat etwas ganz für sich, Arbeit und Karriere, dafür hat sie allein geackert, und nun erntet sie die Früchte und den Ruhm. Ich dagegen habe nichts erreicht, außer zum Glanz anderer beizutragen, in dem ich mich hin und wieder sonnen kann – in kurzen Momenten mit meinen Kindern oder wenn ich bei einem offiziellen Anlass oder einer Hochzeit Arm in Arm mit Paul auftrete. Lange habe ich geglaubt, ich hätte den Hauptgewinn gezogen, und mich in dem wohligen Gefühl gewiegt, dass ich es nicht besser hätte machen können. Jessie hat recht, ich glaube tatsächlich an sie, über alle Enttäuschungen und Fehlstarts hinweg war ich immer sicher, dass sie das Zeug zur Künstlerin hat. Und was ist mit mir? Ist das, was ich bislang für gut und richtig gehalten habe, eine Lüge? Habe ich auf eine reine Erfindung gesetzt, mein Lebensglück auf Täuschung begründet?
Wenn ich niedergeschlagen bin oder mich auch einfach nur langweile, hilft es mir manchmal, in meiner Erinnerung an die Stelle zurückzuspulen, an der ich mit Paul zusammengekommen bin. Meine eigene Geschichte kann mich wunderbar trösten. Die verschiedenen Drehungen und Wendungen und schließlich das atemberaubende Drama unserer endgültigen Vereinigung können mich nach wie vor schnell wieder
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