Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
etwas übersieht.
»Natürlich. Äh, wäre es in Ordnung«, erwidert er leicht verlegen, »wenn ich erst dusche?«
»Wenn Sie nicht so lange brauchen, sicher«, antwortet O’Shea. Paul zieht sich zurück.
»Soll ich rausgehen?«, frage ich unsicher.
Sie scheinen überrascht. »Nein, bleiben Sie ruhig, wenn Sie wollen.« Ich rede mir selbst gut zu, sage mir, dass sie hier nicht ernsthaft nach etwas suchen, dass ihr Verdacht in eine ganz andere Richtung geht. Vorhin habe ich im Fernsehen gesehen, wie Bonacorsi aus dem Gewahrsam entlassen worden ist. Umgeben von Anzug tragenden Männern, die ihn alle um Haupteslänge überragten, stand er oben an der Treppe vor der Polizeiwache. Ich konnte nicht erkennen, ob er so klein war oder die anderen so besonders groß, jedenfalls sah er aus wie ein vor der Zeit gealtertes Kind im Trainingsanzug. Der Kommentator nannte »Mangel an Beweisen« als Grund für Bonacorsis Entlassung, und als Zuschauer blieb man in dem klaren Gefühl zurück, dass das nicht richtig sein kann.
Ein Mann im Anzug, vermutlich sein Anwalt, wollte Bonacorsi immer an den Kameras vorbeischieben, aber der strich sich über das weiße Haar und kam, wenn auch stockend, ins Reden. »Um ehrlich zu sein: Ein bisschen habe ich mich da drin wie zu Hause gefühlt.« Er blinzelte im Blitzlichtgewitter. Und schaute drein, als sei ihm unbegreiflich, was die Leute eigentlich so interessant finden. »Die Polizisten waren auf jeden Fall sehr freundlich. Ich wünschte, es gäbe jemanden, der bestätigen kann, wo ich an dem Abend war, als das junge Mädchen ermordet wurde, aber ich fürchte, es gibt niemanden. Ich habe einfach einen schönen Spaziergang gemacht, wissen Sie? Lange Zeit konnte ich ja nicht spazieren gehen.« Als von allen Seiten Fragen auf ihn niederprasselten, hielt er sich eine Hand vors Gesicht. Er war ganz offensichtlich überfordert. »Wenn wirklich jemand meine Tat nachgeahmt haben sollte, bedaure ich das sehr. Das darf es nicht geben. Sie scheint ein nettes Mädchen gewesen zu sein. Es ist eine Schande.«
Wir warten und schweigen. Ganz in der Nähe ist das Rauschen der Dusche zu hören. Ich fange Whites Blick auf und erkläre, dass wir unten ein Bad eingerichtet haben, weil hier der Wasserdruck höher ist. Zu hören, wie das Wasser über den nackten Körper rinnt, hat etwas irritierend Intimes. Ich senke verlegen den Blick, White kratzt sich an der Nase.
Kurz darauf erscheint Paul, das Haar zerzaust, die Haut noch gerötet. »Entschuldigung«, sagt er, lässt sich in einen Sessel fallen und zieht einen Fuß an, um die Socke überzustreifen.
O’Shea kommt zur Sache. »In welcher Beziehung standen Sie zu Frau Graham?«
»Wir haben vor kurzem zusammen an einer Dokumentation gearbeitet. Sie hat dafür recherchiert.«
»Wie lange war sie bei Ihnen angestellt?«
»Gar nicht. Sie war Freelancerin. Alles in allem hat sie vielleicht ein halbes Jahr lang für uns gearbeitet.«
»Wie gut kannten Sie sie?«
»Ich verstehe nicht ganz?«
»Haben Sie so etwas wie geselligen Umgang gepflegt?«
Paul zuckt die Achseln. »Ein bisschen, na ja, nicht wirklich. Ich habe immer viel zu tun, aber es gab vielleicht hier und da mal einen Feierabend-Drink, und sie war dabei, als wir die Fertigstellung der Serie gefeiert haben. Gekannt in dem Sinne habe ich sie nicht. Das wäre zu viel gesagt.« White schreibt etwas in ihr Notizbuch. Paul stellt den Fuß auf den Boden und nimmt den anderen hoch. Die zweite Socke ist dran.
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Sie ist zu uns ins Büro gekommen, weil sie uns Ideen für Sendungen vorstellen wollte. Ich leite eine Fernsehproduktionsfirma, da lernt man ständig neue Leute kennen; man muss wissen, wen es gibt und wer was macht. Nur so bleibt man im Wettbewerb vorn.«
»Sie wollte Sendungen produzieren?«
»Ja.« Er steht auf, steckt mit schnellen, kräftigen Bewegungen sein Hemd in die Hose, holt seine Uhr aus der Tasche, streift sie über das Handgelenk und lässt den Verschluss zuschnappen.
»Aber am Ende hat sie Recherchearbeiten für Sie erledigt?«
Ich rühre mich nicht. Ich sitze da und starre auf meine Hände. Die Nagelhäutchen sind trocken, die Fingerkuppen rauh und spröde. Zu viel sauber gemacht.
Paul lässt ein Schildchen verschwinden, das noch heraushängt, und wendet sich ganz der Befragung zu. Er stellt beide Füße auf den Boden, legt die Arme auf die Armlehnen des Sessels und lässt die Finger locker herunterhängen. In dieser Haltung sitzen die
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