Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
vertraulich verkehrt, sollte ich ganz oben stehen. Und dann fällt mir auf, dass da keine einzige Mail von mir ist. Ich schreibe Paul viel, meistens um mich mit ihm über den jeweiligen Tagesablauf abzusprechen; manchmal schreibe ich auch einfach nur, dass ich ihn liebe. Ein paar Klicks weiter finde ich meine Nachrichten in dem Ordner mit gelöschten Objekten.
Plötzlich fällt mir eine Vernissage ein, bei der ich mit Jessie war. Im dichten Gedränge, das von einer Seite zur anderen wogte, standen wir vor einem Bild. Jessie reckte ihr Glas Weißwein in Richtung Leinwand. »Das ist mein absoluter Favorit hier.«
Zweifelnd betrachtete ich die nicht sehr gekonnt gemalten Früchte – ein paar Pfirsiche und eine Ananas – in einer kitschigen Schüssel, das Ganze vor einem öden schwarzen Hintergrund. »Das? Ist das dein Ernst?«
»Ich finde es toll.«
»Für mich ist das einfach ein schlechtes Stillleben.«
»Guck doch mal, wie dunkel der Hintergrund schimmert. Die Leerstellen, die Löcher, wenn du so willst, sind eigentlich das Entscheidende an dem Bild.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich sehe das nicht.« Zwei japanische Studenten schoben sich zwischen uns und das Bild. Als sie weitergingen, schaute ich noch einmal genauer hin. Plötzlich trat der Hintergrund hervor; jetzt erkannte ich ein filigranes Geflecht aus wirbelnden, lebendig wirkenden Gestalten. Es war, als läge – im Kontrast zu den kompakten Früchten und der Schale – ein Hauch feinster schwarzer Spitze über dem Bild. Eine perfekte optische Täuschung. Jessie lächelte triumphierend.
»Eigentlich ein alter Kunstgriff, aber hier ist er auf neue Weise ausgeführt. Lücken erzeugen genauso Figuren und Muster wie Gegenstände. Aber jetzt muss ich erst mal die Luft aus diesem Glas lassen.«
Damit verschwand sie in Richtung Bar.
Paul hat vielleicht unter seinen Mails aufgeräumt, aber an die Stelle jedes gelöschten Musters tritt ein neues. Bedauerlicherweise sieht es so aus, als sei im neuen Design die Ehefrau nicht mehr vorhanden.
Das Telefon klingelt. »Mrs. Forman? Kommen Sie die Kinder holen?«
»Wie?«
»Hier ist die Schule. Josh und Ava warten im Betreuungszimmer. Wahrscheinlich sind Sie ja gleich hier?« Ihr Ton ist spitz, vorwurfsvoll.
Es ist Viertel vor vier. Über dem Gestöber in Pauls E-Mails habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Den ganzen Tag sitze ich schon hier. Ich habe nichts gegessen, das Arbeitszimmer praktisch nicht verlassen. Jetzt gehe ich sofort in den Gehetzte-Mutter-Modus über. »Natürlich, ich bin jede Sekunde da. Ich bin entsetzlich spät dran, der Verkehr …«
»Beeilen Sie sich bitte.«
Damit setzt sie meinen dürftigen Ausreden ein Ende. Die kriegt sie seit Jahr und Tag zu hören, immer von jenen Frauen, die mit zu vielen Bällen jonglieren. Einen Augenblick lang verspüre ich den irren Drang, ihr zu erzählen, was wirklich los ist. »Ich glaube, mein Mann ist ein Mörder.«
Wahrscheinlich würde sie nicht mit der Wimper zucken. »Wie auch immer, beeilen Sie sich«, würde sie sagen und auflegen.
18
A bends kommen die Polizistinnen wieder. Sie wollen mit Paul sprechen. Es beunruhigt mich, wie schnell und zielstrebig sie vorgehen. Ein leiser Schmerz macht sich in meiner Magengegend bemerkbar, bohrende Angst. Sie stehen in der Diele herum, rücken Taschen zurecht, legen Mäntel ab. Gerade will ich erklären, dass Paul joggen ist und wohl bald zurückkommen wird, da höre ich ihn an der Haustür. Dann steht er vor ihnen, schwer atmend, nach vorn gebeugt, die Hände in die Hüften gestützt. Paul macht keine halben Sachen.
»Mr. Forman?«, fragt O’Shea.
Er nickt und ringt noch immer nach Atem. Er trägt ein langärmliges Funktionsshirt und Shorts; das Hemd hat dunkle Schweißflecken. »Bitte … hier entlang.« Er geht voran, stößt die Wohnzimmertür auf und macht eine einladende Geste, während wir uns dicht an seinem vor Testosteron strotzenden Körper vorbeidrängen. Solange sich die Polizistinnen noch suchend nach einer Sitzgelegenheit umsehen, bleibt er an der Tür stehen. »Tut mir leid«, versucht er einen Scherz, »ganz der Alte bin ich nicht mehr.« Er wischt sich Schweiß vom Hals, und ich sehe die Bauchmuskeln, die sich unter dem Jersey abzeichnen.
White wird unruhig.
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen zu Melody Graham stellen«, hebt O’Shea an, die neben dem Sofa steht und sich offenbar nicht den weichen Polstern überlassen will, damit sie es nicht zu bequem hat und womöglich
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