Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
mitleidig an und sagt: »Um ein Haar. Wenn du einfach das J genommen hättest … wer weiß?« Dann lacht er kurz. Am liebsten würde ich ihm dieses Lächeln vom Gesicht rubbeln. Würde ich »schrubben« draus machen, hätte ich ein paar Punkte mehr.
Ich gehe zur Toilette und schaffe es, mich ein bisschen zu beruhigen, aber den Tee lasse ich weiter auf den Teppich tropfen.
Auf der linken Seite des Schreibtischs liegt ein Blatt Papier, auf dem er sich Notizen gemacht hat. Ich versuche es mit jedem einzelnen Wort von dem Zettel. Nichts passiert. Ich starre auf die krakelige Schrift. Er verwendet ausschließlich Großbuchstaben, was ich immer komisch fand. Vielleicht ist das so ein Männerding? Bestimmt kann er gar nicht richtig schreiben. Er ist so begabt, aber es kommt oft vor, dass er am Laptop sitzt und zu mir herüberruft: »Schreibt man ›selig‹ mit einem e oder mit zwei?« Oder: »Wie schreibt man ›Garderobe‹?« Das ist seine Achillesferse. Mir kommt eine Idee. In letzter Zeit habe ich so oft an sie gedacht: Eloide. Der Name ist nicht ohne. Wie lange Paul wohl gebraucht hat, um ihn zu lernen? Noch ehe ich richtig nachgedacht habe, schreibe ich »melodie«. Ich drücke die Enter-Taste und bleibe draußen. Ich schreibe »meledy«. Ich drücke Enter … nichts. »Ach, Eggy, Eggy«, sage ich vor mich hin, und Tränen kullern mir über die Wangen. Ich gebe meinen Spitznamen ein, zweimal hintereinander, denn es müssen mindestens sechs Buchstaben sein, und ich bin drin.
Mit zitternder Hand wische ich die Tränen fort. Dass ich es hingekriegt habe, ein Passwort zu knacken, verschafft mir für etwa drei Sekunden Erleichterung – und dann kommen all die anderen unbeantworteten Fragen. Es kostet mich ungeheure Kraft, mich auf die vor mir liegende Aufgabe zu konzentrieren. Sein Posteingang ist langweilig. Keine einzige Mail von Melody, keine frechen Scherze, keine erotisch aufgeladenen Anspielungen, die auf eine schon lange währende Sexbeziehung hindeuten, keine schmachtenden Briefe von einer jungen, liebeskranken Anbeterin. Bei den gelöschten und den gesendeten Objekten sieht es nicht anders aus. Nachdem ich mich stundenlang abgerackert habe, um endlich in diesen Account reinzukommen, fühle ich mich regelrecht betrogen. Aber ist das so überraschend? Melody ist tot. Sie ist ermordet worden. Die ersten Spuren, die man beseitigen würde, wären natürlich E-Mails. Es fühlt sich an, als wäre ich zu einer Party gekommen, von der die interessantesten Gäste längst verschwunden sind. Also kann ich mich genauso gut aufs Büfett stürzen.
Ich sehe mir einfach alles an. Es gibt einen kleineren Mailwechsel mit Lex; scheint tatsächlich so, als strecke er die Fühler nach einem größeren Firmenanteil aus. Typisch. Lex ist der L’Oréal-Typ; er findet einfach, dass er es wert ist. Ich sehe ein paar knappe, beinahe brüske Mails von Portia, in denen es um die Verbindlichkeiten und die Dachmarkenstrategie von CPTV geht, was auch immer das sein soll. Sie hat immer noch andere Namen im CC und verzichtet gänzlich auf die netten Grußformeln, die mir so geläufig sind. Offenbar ist sie dermaßen beschäftigt, dass sie alles Oberflächliche längst gestrichen hat. Weiterhin gibt es einige Mails von Sergei, der sich anbietet, Pauls überfällige Spesenabrechnung zu machen; eine Rundmail von Astrid mit einem anzüglichen Witz; von Jessie eine Ausstellungseinladung, die mit Ausrufezeichen nur so gespickt ist. Dann finde ich einen Briefwechsel zwischen Paul und John, in dem Paul sich erkundigt, ob Forwood TV sich absichern muss. John hat einen langen Artikel über geistiges Eigentum und die Rechte daran angehängt. Das interessiert mich. Sie versuchen zu klären, wer die Rechte an einer Idee hat – im Gegensatz zu denen an einer bereits produzierten Sendung. »Bring sie so schnell wie möglich dazu, einen Vertrag zu unterschreiben.«
»Der ist entworfen, aber sie zögert noch. Sie will sich erst rechtlich beraten lassen«, hat John am nächsten Tag geantwortet. Das Ganze liegt drei Wochen zurück. Paul ist nicht mehr darauf eingegangen. Da hat es offensichtlich Unstimmigkeiten gegeben. Bei dem Gedanken ist mir nicht wohl, doch dann bleibt mein Blick an etwas viel Interessanterem hängen: einer Mail von Eloide. »Okay, wahrscheinlich hast du recht. Ich könnte sie zum Mittagessen einladen. Würde dich das glücklich machen?«
Der vertrauliche Ton versetzt mir einen Stich. In der Hackordnung derer, mit denen er
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