Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
Knopf. Meine Beine sind schwer wie Blei.
»Der ist außer Betrieb, siehst du?«, sagt er und zeigt auf ein entsprechendes Schild, das an die Wand geklebt ist. »Na los, wo ist dein Abenteuergeist?«
Ich folge ihm, weil ich daran gewöhnt bin, dass Paul gute Entscheidungen trifft, und weil ich viel zu müde bin, um nachzudenken. Runde für Runde steigen wir hinunter. Die Treppe ist eng. Mir wird schwindlig, ich muss langsamer gehen; Paul verschwindet aus meinem Blickfeld. Der Weg nach unten scheint endlos. Und es riecht hier nicht gut, überhaupt nicht gut.
»Paul?« Er antwortet nicht, und ich höre keine Schritte mehr auf den metallenen Stufen. »Paul?« Ich beschleunige, haste ihm hinterher, und wie ein Eingeständnis meiner Angst richten sich meine Nackenhaare auf. Mein Atem geht schneller, ich stolpere. In der Erwartung, etwas Schreckliches zu erblicken, drehe ich mich um, aber es ist niemand da.
»Diese Treppe hat hundert Stufen«, lese ich an der Vorderseite der obersten Stufe. Ich bin jetzt vielleicht sechzig hinuntergestiegen, etwas mehr als die Hälfte. Am liebsten würde ich umkehren, den endlosen Weg nach Hause per Bahn und Bus zurücklegen, rausgehen an die frische Luft, aber andererseits ist es nicht mehr weit bis zum warmen Auto, wo ich wie ein Kind schlafen kann, während Paul mich sicher nach Hause bringt. Ich fasse den rostigen Handlauf an und stürme nach unten, so schnell ich kann. Ich könnte jederzeit fallen, und das wäre alles andere als gut, aber inzwischen hat sich eine Angst in mir festgesetzt, die einfach nicht weichen will. Noch eine Kurve, dann bin ich endlich unten – und völlig außer Atem.
Paul steht neben dem Fahrstuhlschacht. Seine Miene ist ernst. Meine Tasche klemmt unter seinem Ellbogen, oben schaut Melodys blauer Hefter ein kleines Stück heraus. Ich realisiere schlagartig: Paul könnte die Mappe erkannt und begriffen haben, woher sie stammt.
»Möchtest du mir etwas sagen, Kate?« Ich ringe um Atem. »Es würde mir nämlich gar nicht gefallen, wenn wir Geheimnisse voreinander hätten.«
Sein Arm quetscht die Tasche noch weiter zusammen, und das kleine Dreieck aus hellblauer Pappe ragt über den Lederrand wie ein Segel in stürmischer See. Ich bringe keine Antwort zustande. Kalt sieht er mich an, und ich erwidere seinen Blick schweigend. »Dann lass uns jetzt gehen.«
Ich drehe mich um. Es fällt mir schwer, den Speichel zu schlucken, der sich viel zu schnell in meinem Mund bildet. Der Tunnel ist nur matt erleuchtet; an einigen Stellen flackert das Licht. Er führt über eine längere Strecke bergab, bevor er wieder ansteigt und man das Ende erkennen kann. Die Perspektive spielt mir einen Streich; mit jedem Schritt scheint der Weg schmaler zu werden. Meine latent vorhandene Klaustrophobie meldet sich und schnürt mir die Kehle zu. Wir sind allein. Mehr als mein halbes Leben habe ich in London zugebracht. Meine Mutter versteht das nicht, sie findet die Stadt schmutzig und gefährlich, ich dagegen liebe sie. Nirgends ist es so vertraut wie hier. Wo du auch hinkommst, es sind Leute da, du bewegst dich im Windschatten und zugleich im Schutz fremder Menschen. Ich habe mich hier noch nie gefürchtet – das ist nicht selbstverständlich in einer so großen Stadt –, weil ich nie irgendwo allein war. Aber hier unten, in diesem Grab, gibt es nur Paul und mich. Niemand hört dich schreien. Niemand, der (wie meine Mutter sagen würde) bei Verstand ist, würde sich abends um halb zehn hier aufhalten. Niemand, der klar denken kann.
Paul setzt sich in Bewegung, und wir gehen steif nebeneinander her. »Hier ungefähr fängt die Themse an, schätze ich.« Ich schlucke. Wir gehen abwärts, der asphaltierte Weg ist leicht abschüssig. »Wär interessant zu wissen, was das Wasser über uns wiegt.«
»Können wir über etwas anderes reden?« Das macht er mit Absicht. Er will, dass ich durchdrehe vor Angst. Jeder hat seine Achillesferse – meine ist Wasser. Ich kann nicht schwimmen. Eine der vielen Fertigkeiten, die ich nie erlernt habe, wie ein Instrument spielen oder kochen. Wasser erschreckt mich, Ertrinken ist der furchtbarste Tod, den ich mir vorstellen kann. Seit frühester Kindheit habe ich Alpträume von Tsunamis, denen ich zu entkommen suche, auch wenn so was zu meiner Kinderzeit Flutwelle hieß; bei Geschichten über Whirlpools fange ich an zu weinen. Paul weiß das alles, und trotzdem reitet er jetzt darauf herum. Er will mich mürbe machen.
»Während der Bombardements
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