Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
hochspringt; einen kleinen Mann mit Fliegersonnenbrille ganz vorn am Zaun, der völlig reglos dasteht. Die Reglosigkeit verrät ihn. Genauso stand er auch in der Schlange an der Essensausgabe oder bei der Zelleninspektion, so saß er vor dem Bewährungsausschuss. Die Brille tarnt ihn geringfügig, aber er ist es. Gerry.
Im Handumdrehen bin ich die Treppe hinunter und quetsche mich zwischen ein paar Büroangestellten hindurch, die wild entschlossen sind, ihren Durst zu löschen.
Nachdem ich die Haupttribüne verlassen habe, komme ich spürbar langsamer voran; immer wieder muss ich rotgesichtigen Biertrinkern ausweichen und einem ganzen Heer von Leuten, die sich offenbar verschworen haben, gerade mich einzukesseln. Es dauert so lange, viel zu lange, bis ich endlich zur Ziellinie komme. Lex und seine Sprüche von gestern fallen mir ein. Bluthund. Rennst hin, wenn ein Stock weggeworfen wird. Wird Gerry mir einen Stock hinwerfen? Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
»Pass doch auf!« Ich habe eine Frau so angerempelt, dass sie ihren Freund mit Bier bekleckert hat. Hastig laufe ich vor ihren Tiraden davon. Die Menge ist so dicht, dass ich immer nur die paar Leute unmittelbar vor mir sehen kann; um über die Köpfe hinwegzusehen, bin ich nicht groß genug. Fünf Reihen trennen mich noch vom Zaun; der rot-weiße Zielpfosten ist schon fast zum Greifen nahe. Weiter nach vorn zu kommen ist unmöglich, also versuche ich es seitwärts; ich kann es kaum erwarten, Gerrys Kurzmantel zu sehen.
Die Menge fängt an zu schwanken und sich unter allgemeinem Murmeln geschlossen nach links zu wenden. Ich werde nach vorn gestoßen. Jetzt kommt das Stampfen der Hufe näher. Ein Mann hinter mir brüllt mir wieder und wieder den Namen eines Pferdes ins Ohr, andere kreischen: »Los, mach schon!« Als die Pferde vorbeijagen und die Menge noch weiter nach vorn drängt, werde ich für einen Moment angehoben, und als die Anspannung abfällt und alle ausatmen, verliere ich das Gleichgewicht und falle auf das schmutzige Gras. Meine Sonnenbrille gerät unter einen großen Gummistiefel.
Zwei Männer packen mich bei den Ellbogen und hieven mich hoch. Sie vergewissern sich, dass es mir gut geht, dann lassen sie mich los, und ich suche mir eine Stelle, wo etwas mehr Luft ist. Fluchend stampfe ich über das Konfetti aus zerrissenen Wettscheinen vorwärts. Gerry könnte schon seit zehn Minuten weg sein.
Ich schubse und remple mich weiter voran, bis zu der Koppel, auf der die Siegerpferde nach dem Rennen stehen, und dort erkenne ich an einem von zwei Männern, die einander jubelnd in den Armen liegen, Gerrys Mantel.
Sofort lege ich ihm eine Hand auf die Schulter und sage seinen Namen, und er fährt zu mir herum. Er ist kleiner als ich; in den Gläsern seiner Sonnenbrille sehe ich mein Spiegelbild. Auf meiner Wange kleben ein paar Schlammspritzer. »Ich bin Kate Forman. Wir sind uns ein paar Mal bei …«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Ich fahre mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Entschuldigung. Ich bin eben dort hinten hingefallen. Ziemlich aufregend, was?«
»Wenn Sie da gewesen wären, wo ich war, würden Sie die Menschenmenge lieben und gleichzeitig hassen.«
Ich lächle und nicke. »Kann ich Sie zu etwas einladen?«
Gerry zuckt die Achseln. »Zu einem Drink würde ich jetzt nicht nein sagen. Wussten Sie, dass es heißt, nach einem Drink können die Gewinnchancen ganz anders stehen?«
Wir gehen hinüber zu einem der Bierzelte. Ich gebe eine Runde aus und lasse das Gespräch nicht abreißen. »Wie läuft’s heute für Sie, gut oder schlecht?«
»Schlecht. Wenn ich nicht bald gewinne, mache ich mich auf den Heimweg.« Er dreht sich zu mir um; seine Miene hinter den riesigen Brillengläsern verrät nichts. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Mir ist eingefallen, dass Sie in Inside-Out einmal erwähnt haben, dass Sie Pferderennen mögen.« Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, also reiche ich ihm sein Bier und rede weiter. »Ich arbeite für eine Serie mit dem Titel Crime Time . Wir planen eine Sondersendung zu Melody Graham und würden uns sehr freuen, wenn Sie zu uns kommen und Marika Cochran ein Interview geben würden …«
Gerry flucht dermaßen, dass ich vor Schreck zurückfahre. Innerhalb einer Sekunde hat er von freundlich und charmant auf kalt und wütend umgeschaltet. »Ich weiß nicht, wer das ist, und es kratzt mich auch nicht. Ich will nur meine Ruhe haben.«
»Es geht nur um dieses eine Mal, einfach wegen der
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