Ich habe sieben Leben: Die Geschichte des Ernesto Guevara, genannt Che (German Edition)
hat die »Granma« mit 82 Männern an Bord den Hafen von Tuxpán verlassen. Ernesto ist jetzt 28 Jahre alt.
Mehr als zwei Jahre später, nach einer Guerilla, die zunächst mit den furchtbarsten Misserfolgen begonnen hat, am 2. Januar 1959, ist der Diktator Batista vertrieben. Die Revolutionäre ziehen in Havanna ein. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft soll Wirklichkeit werden. Während dieser zwei Jahre in der Sierra Maestra geht Che durch alle Höllen des Dschungelkrieges. Er verlangt seinem von Asthmaanfällen immer wieder heimgesuchten Organismus höchste physische Anstrengungen ab. Er gibt es auf, Arzt zu sein. Er erlebt, wie eine Utopie durch extreme menschliche Willensanstrengung in die Tat umgesetzt werden kann, und er entwickelt aus diesen Erfahrungen sein Ideal, das er niemals aufgeben wird, das er intensiver und kompromissloser als andere in die Zeit nach dem Sieg hinüberrettet: »Es handelt sich nicht darum, wie viel Kilogramm Fleisch jemand isst, nicht darum, wie oft man an den Strand baden geht und nicht um die importierten Annehmlichkeiten, die man mit seinem Lohn erwerben kann. Es gilt, ein Individuum zu schaffen, das sich vollkommener, innerlich reicher und viel verantwortlicher fühlt.«
Die Verkörperung dieses Individuums das an sich wie an andere höchste Ansprüche stellt, das von einem schon fast übermenschlichen Opfermut beseelt sein soll, ist der Guerillero, der als Avantgarde die Massen anzuführen, sie wachzurütteln und die Befreiung aller unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Dritten Welt in Angriff zu nehmen hat, und zwar selbst dann, wenn, gemäß orthodox-marxistischen Vorstellungen, die Voraussetzungen zur Revolution noch nicht gegeben sind.
»Es handelt sich darum, eine Formel zu finden, um im täglichen Leben diese heroische Haltung fortbestehen zu lassen. Das ist eine unserer grundlegenden ideologischen Aufgaben.«
Das Grundübel für alles Böse, »die Wurzel für hunderttausendfaches absurdes Leiden, das Menschen anderen Menschen täglich zufügen«, besteht nach Che in der Verdinglichung des Besitzes und dem damit verbundenen Bewusstsein der Besitzenden.
Das bedeutet: Auf der Erde sterben jeden Tag mindestens 10.000 Menschen an Hunger, bloß weil andere Reichtümer im Überfluss anhäufen. Die Besitzenden machen sich nicht klar, dass ihr Besitz die zum Produkt kristallisierte Arbeit anderer ist. Sie betrachten ihren Reichtum als etwas Selbstverständliches, als ein Ding, als zur Natur der Sache gehörend, aus der Natur geworden.
Arbeit aber verdinglicht nur unter bestimmten Herrschaftsverhältnissen. Deshalb muss man die Herrschaftsverhältnisse ändern.
Damit wird das Problem der Gewalt berührt. Ches Gewaltvorstellung ist nicht so einfach, wie sie später oft hingestellt wurde. Sein Denken lässt sich nicht auf die Formel bringen: repressive Gewalt ist des Teufels, revolutionäre Gewalt ist zu bejahen.
Der Ausgangspunkt ist vielmehr, dass ein Mensch, angesichts der unerhört großen Summe des Elends, dazu getrieben wird, zur Überwindung dieses Elends Gewalt anzuwenden, da er erkannt hat, dass die Unterdrücker nur mit Gewalt zu schlagen sind.
Der Guerillero handelt gewalttätig, nicht aus Gewinnsucht, nicht aus dem Verlangen nach Macht, nicht um seine individuelle Aggressionslust zu befriedigen, sondern aus moralischer Notwendigkeit. Gewalt zu üben schließt beim Guerillero immer auch die Bereitschaft zum Selbstopfer des eigenen Lebens mit ein. »Siegen (und damit ist gemeint, ein neues gesellschaftliches Sein zu verwirklichen) heißt prinzipiell zu akzeptieren, dass das Leben nicht das höchste Gut des Revolutionärs ist.«
Diese existentielle Anstrengung, die bewusst durchlebt wird, führt schließlich zu dem, was Che als »Geburt des neuen Menschen« bezeichnet.
Am besten findet sich dieser Prozess in einem Aufsatz von Jean Ziegler, der Guevara persönlich kannte und mit ihm im Frühjahr 1964 in Genf eine lange Nacht lang diskutierte, beschrieben:
»Algerische Revolutionäre haben mir von einer ähnlichen Erfahrung berichtet: Nach einigen Monaten Untergrundtätigkeit, im vollen Bewusstsein der Folter und des Leidens, die ihn bei seiner Gefangennahme erwarten, verliert der Revolutionär plötzlich eines Tages die Angst und damit seinen ganzen bisherigen psychischen Bezugsrahmen. Seine Motivationsstruktur verändert sich qualitativ. Etwas von der Verklärtheit, der Erdungebundenheit und der unendlich zielgerichteten Liebe des Heiligen erwacht
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