Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Manteltasche, doch eine Umkehr schien mir zu gefährlich. Und so stapfte ich durch den Schnee, das Gleißental entlang, am Deininger Weiher vorbei, immer weiter in den Wald, über Lichtungen, Feldwege und wieder Wald.
Je weiter ich mich von Mutters Haus und von Deisenhofen entfernte, desto mehr schwand die Angst. Stattdessen bemächtigte sich meiner ein noch nie erlebtes Glücksgefühl. Ich liebte und hatte Liebe erfahren. Trug ich ein Kind in mir? Ein Zeugnis unserer sieben Tage? Ich würde es hüten, und ich fand mich singend im Wald wieder, »Gott, du hast mich erfüllt«. Das hatte ich doch auch schon vor neun Tagen im kleinen Flur in der Kölner Lintgasse gespürt. Was war los mit mir? Ich war doch Atheistin oder allenfalls Pantheistin. Was entrückte mich so? Wieso war mir so religiös zumute?
Ich wanderte stundenlang weiter, da hörte ich von fern erst leise, dann langsam lauter werdend ein schreckliches Geschrei. Was war das? Der Wald war leer. Bildete ich mir diese Schreie nur ein? Waren sie der Ausdruck all des Schmerzes, den Karlheinz und ich uns gebeichtet hatten? Nach einer Wegbiegung bemerkte ich an einer Lichtung ein großes, fast fensterloses Gebäude. Dort kamen die Schreie her, also war es doch keine Halluzination. Ich stapfte darauf zu, erkannte menschliche Fußspuren im Schnee, denen ich folgte, öffnete das Tor, durch das die Spuren führten, und blickte in einen Stall voller schreiender Schweine. Dann, wie ein Diminuendo, wurden die Schreie leiser, bis nur noch harmloses Gequieke und Schmatzen zu hören waren. Ich erblickte hinten in der Ecke einen Bauern, der die Futtertröge füllte. Schmatzen, Quieken, Stupsen, Stille.
Leise ging ich hinaus, aber die Schreie blieben in meinem Inneren haften. Als Kinder hatten wir oft vor Hunger geweint. Nur leise, denn anders als die lauthals schreienden Babys hatten wir gelernt zu erdulden – den Hunger, die Bombennächte, die ausgebrannten Häuser, die gefallenen Verwandten. Und mit den Schreien der Schweine war in mir ein Wehklagen über diese Welt entstanden, über all das, was ich schon erfahren hatte an menschlichem Elend. Auch ahnte ich die Schwierigkeiten, die sich unserer Liebe entgegenstellen würden. Sie war keine gesegnete, sie war eine verzweifelte.
Es wurde Abend. Ich kam durch ein Dorf und kaufte mir in einem Laden Brot, Milch, eine Landkarte und rief meine Mutter an, um ihr zu sagen, ich käme heute nicht zurück. Benno sei zu allem fähig, wenn die Rachegeister erst mal Besitz von ihm ergriffen hätten. »Bitte, Mama, lenk ihn ab. Ich ruf dich morgen wieder an.« Dann lief ich weiter. Wohin, war mir gleichgültig. Wieder ging es durch Wald. Ich wurde müde, legte mich frierend ins Unterholz, wo ein Reh eine schneefreie Mulde geschaffen hatte, und schlief langsam ein. Wäre es gut, nicht mehr weiterzuleben? Das Ganze zu beenden, bevor es seinen Lauf nahm? Doch dann kam wieder das Glücksgefühl in mir hoch, die Zweifel verflogen. Ich stand auf aus meiner kalten Kuhle und setzte mich wieder in Bewegung. Mond, Wald, Schnee, immer geradeaus wie in Trance. Irgendwann kam ich über eine Brücke, schritt weiter, ohne nachzudenken, bis ich auf einen schmalen Pfad stieß, der in einen Holzsteg an einem See mündete.
Ich wachte auf aus meiner Wandertrance, stand am Ende des Stegs. Zwei Schwäne schwammen ruhig daher, ich fütterte sie mit dem Rest meines Brots und blickte über das Wasser. Ich wollte erspüren, wo Karlheinz sich gerade befand, in welcher Richtung. Ich wusste ja nur, dass er sich in einem Dorf in der Nähe von München aufhielt. Ja, auf der anderen Seite des Sees, irgendwo dort rechts oben vermutete ich ihn, und meine Gedanken sehnten sich dorthin.
Später lief ich den Steg zurück, ging weiter und fand im nahen Dorf eine Wirtschaft, in deren Fenster noch Licht schien. Ich klopfte an und bat: »Kann ich hier übernachten?«
Es kam eine barsche Antwort: »Nein, Winterpause, Zimmer sind nicht geheizt.«
Ich beharrte: »Ist mir egal. Nur ein Bett brauche ich. Zehn Mark zahle ich dafür.«
Der Wirt willigte ein. Er klärte mich noch darüber auf, dass ich in Ammerland am Starnberger See gelandet war. Ich nahm eine Flasche roten Johannisbeersaft mit aufs kalte Zimmer. Mit dem Saft schrieb ich in den Schnee auf dem Balkon den Namen Karlheinz. »Alles mit dir ist Magie«, sollte er noch oft zu mir sagen. Ich tat diese Dinge nicht bewusst. Sie kamen von selbst, ohne viel Überlegen. Nachdem ich seinen Namen so in den Schnee gebannt
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