Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
hatte, folgte eine kurze, traumlose Nacht. Ich hatte nur noch die Landkarte studiert und mich entschieden, morgens rechts am See vorbei zurück nach München zu wandern, um Mutter in dem Geschäft, in dem sie arbeitete, aufzusuchen und mich mit ihr zu beraten.
Am nächsten Morgen erwartete mich strahlende Sonne. Wäre ich meinem Plan gefolgt, nach rechts Richtung München zu gehen, hätte ich die Sonne im Rücken gehabt, das mochte ich aber nicht. Ich wollte dem Licht entgegengehen. So folgte ich dem Weg nach links, den See entlang durch den Wald. Die Sonne schien kalt und still. Da kam ein Reh auf mich zu. Ohne Scheu blieb es stehen, ich ebenso. Wir sahen uns fast ehrfürchtig an. Dann verschwand es sachte im Gebüsch, und ich setzte meinen Weg ebenso langsam und leise fort. Da kam mir, schon von Weitem sichtbar, ein Mensch entgegen. Es war eine alte Frau, die resolut durch den Wald marschierte. Wir blieben beieinander stehen, zwingend fast, als hätten sich unsere Wege hier kreuzen müssen, und sprachen miteinander. Irgendwann fragte sie, wohin ich wolle.
Ich antwortete: »Eigentlich zurück nach München, aber erst noch um den See herum.«
Daraufhin riet sie mir: »Nein, die Straße am See ist zu befahren, dieser Wald hört bald auf. Gehen Sie an der Kreuzung da hinten links den Berg hoch, auf die Kirche zu, und dann können Sie rechts oder links weiter. So kommen Sie auch nach München.«
Plötzlich spürte ich, dass ich mich sofort aufmachen musste, und brach unser Gespräch ab. Ich folgte ihrem Rat und sah bald oben am Berg die Kirche. Der Weg gabelte sich, die Gabel stand wie ein Lichtzeichen vor mir. Sollte ich nach rechts oder nach links? Ich schloss die Augen. Ging ich nach rechts, würde ich ein klares, zurückgezogenes Leben führen, allein mit meinem erhofften Kind, aber behütet von dieser Energie, die mich so durchflutete und die man vielleicht Urkraft oder Gott nannte. Und ging ich nach links, dann war das der andere Lebensweg, die Gefühle, die Erfahrung und auch das Chaos. Ich zögerte noch. Dann zog es mich nach links. Ich öffnete die Augen und begann den Anstieg. Da kamen plötzlich von oben zwei Schlitten mit Kindern darauf angefahren. Und dahinter gingen Doris und Karlheinz, sie kamen gerade vom Einkaufen und waren auf dem Weg zurück in ihr Urlaubshaus.
Ich erstarrte. Er erstarrte. Konnten wir unseren Augen trauen? Konnte die Sehnsucht zweier Menschen solche Kräfte entfesseln, dass sie in einem Umkreis von vierzig oder mehr Kilometern zueinanderfanden, durch das bloße Denken aneinander? Wäre ich auch nur eine Minute früher oder später dort vorbeigekommen, hätten wir uns nicht getroffen. Ich handelte wieder wie in Trance. Ging auf die beiden zu, rief aber zuerst Doris beim Namen.
Karlheinz hatte Doris von meinem Lebens- und Leidensweg mit Benno und von der Trennung erzählt, jedoch noch nicht von unseren Gefühlen füreinander. Das merkte ich, aber ohne zu zögern, folgte ich der Einladung mitzukommen. Das Haus, das Ernst und Majella Brücher gehörte, lag in Ambach etwas erhöht einige hundert Meter vom See entfernt. Dort packte mich Doris erst einmal in die Badewanne und bereitete mir ein Schlafzimmer.
In den kommenden Tagen half ich ihr mit den Kindern, kochte, machte mich nützlich und hoffte, dass Karlheinz den Mut finden würde, Doris unsere Liebe zu offenbaren. Doch es schien ihm zu früh dafür, er wollte noch warten.
Dann fuhr ich mit Doris zu einem Konzert nach München. Karlheinz blieb in Ambach, um zu komponieren. Im Konzert saß auch Benno, und das war kein Zufall. Denn er hatte, als er sich nach meinem Weggang noch im Haus meiner Mutter aufhielt, heimlich die an mich adressierte Einladung zu diesem Konzert gelesen, die Karlheinz mir geschickt hatte – wohl in der Hoffnung, mich dort zu treffen. Mich selbst hatte sie nicht mehr erreicht.
Nach dem Konzert folgte Benno uns nach draußen und konfrontierte Doris mit den Tatsachen, die ich ihm im Zug berichtet hatte. Sie reagierte souverän, nahm mich am Arm, wir verschwanden auf den Parkplatz und fuhren eilig zurück nach Ambach. Im Auto erzählte ich Doris alles, versicherte ihr aber meine Loyalität: Ich würde ihr nie den Mann wegnehmen. Sie blieb erstaunlich ruhig. Und so kamen wir in Ambach an und offenbarten uns nun wiederum Karlheinz. Er fiel uns beiden erleichtert um den Hals mit den Worten: »Dann geht es jetzt gemeinsam weiter.« So hatte sich für ihn das Problem des Beichtens unserer Beziehung
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