Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
eiskalte Dusche, und der Geruch von Mottenkugeln treibt ihn bis heute zum Wahnsinn. Also zu Jack hätte ich mich vielleicht legen können, gerade zu ihm! Aber nein, besser auch nicht zu Jack – es galt, sie durchzustehen, diese Nacht.
Ich zog mir Stiefel und Mantel an, setzte eine Mütze auf und ging nach draußen in die eisige Winternacht. Vor mir lag eine blitzend glitzernde Schneedecke. Der Mond neigte sich schon, schräg durch die Bäume schien das Licht, es wurde noch magischer als bei voller Beleuchtung. Ich ging zur großen Wiese und lief ganz außen an ihr entlang, also zunächst fast im Quadrat parallel zu den Waldrändern. Ganz langsam, ich setzte jeden Schritt bewusst. Ich würde mein Leben leben, meinen Weg gehen, egal, welche Umstände, welche Stolpersteine mir das Schicksal in den Weg legte. Es war ein symbolischer Befreiungsgang, ich setzte Fuß vor Fuß, eine zweite Runde, eine dritte Runde, immer im Kreis, denn zu dem wurde das vormalige Viereck. Aus dem Ums-Eck-Gehen war ich in die Rundung gekommen, ich konnte schon fast die Augen schließen und bewegte mich spiralförmig immer weiter nach innen.
Die Wiese war groß, mein inneres Feuer wärmte mich, das Verlassenheitsgefühl löste sich auf, es lag ja schon mehrere Stunden zurück. Zunächst entstand eine Art Leere. Das mantrenartige Gesumme, das ich angestimmt hatte, brachte mich in einen Raum, der sich immer mehr dehnte. Es wurde Morgen, der Mond verblasste. Nach der Stille der letzten Stunden meldete sich mein jubelndes Ich zurück, es hatte dem weinenden, hadernden Ich das Mütchen gekühlt. Als ich die Mitte erreichte, war es fast hell, ich konnte in der Dämmerung meine Fußspuren sehen, eine perfekte Spirale. Ich hatte kein einziges Mal die Linie der vorigen Umrundung durchquert. Ja, ich war im Reinen mit der Welt. War wieder in meiner Mitte angelangt.
An diesem Tag beim Abendessen bemerkte ich, dass Chris, der Däne, als Einziger meine Fußspurspirale entdeckt hatte. Vom Fenster des Esszimmers blickte man auf die große Wiese. Ich stand am Fenster und sann nach. Chris trat neben mich und deutete auf die Schneespirale – ja, das war ich, klar. Nicht ganz zwölf Stunden waren vergangen, doch wie anders sich die Welt jetzt anfühlte. Ich hatte mir das Gefühl des In-der-Mitte-angelangt-Seins erhalten, würde etwas davon mein ganzes Leben lang beibehalten können, zumindest aber die Methode, das Zu-sich-Kommen beim Wandern, ob gezielt in einer Spirale oder absichtslos. Fortbewegen, ja: fort bewegen. So lange, bis man still wird, um in diese Stille hinein zu spüren, wohin es als Nächstes geht.
Mir wurde klar, dass ich Abstand gewinnen musste von unserer Dreierbeziehung. Ich wollte mich wieder lösen aus dieser Symbiose. Warum verlor ich mich selbst, wenn ich liebte? Warum diese totale Hingabe an den anderen? Warum konnte nicht alle Liebe leicht und spielerisch sein? Und dazu kamen auch immer wieder meine Bedenken Doris gegenüber. Hatte ich dem Paar nicht doch nur Unglück gebracht? War es eine Illusion zu glauben, ich wäre Doris und den Kindern etwas anderes gewesen als ein Störenfried? War ich nicht schlicht eine Ehebrecherin?
Langsam reifte in mir der Entschluss, in den USA zu bleiben. Den letzten Ausschlag für diese Entscheidung brachte ein Brief von Ernst Brücher aus Köln, in dem er schrieb, Benno sei erneut ausfällig geworden. Diesmal habe er ihn, Ernst Brücher, der ja auf Stockhausens Seite stand, mit den Worten bedroht: »Mit Ihnen rechne ich auch noch ab.« Mir wurde klar, dass wir nie Ruhe finden würden, solange Benno seinen Zorn nicht überwunden hätte, und ich wollte ihm nicht noch eine weitere Angriffsfläche bieten. Ich würde also in New York bleiben und mir ein Atelier suchen.
In einem Café in Manhattan beriet ich mich mit Doris über die weitere Vorgehensweise. Das Kölner Atelier könnte ich Michael von Biel, einem Kompositionsschüler von Stockhausen, überlassen; er bewohnte es schon seit dem letzten Oktober und hatte dort weitere Konzerte organisiert. Die Miete war vor meiner Abreise für ein Jahr bezahlt worden, mit Geld, das Dieter Rosenkranz für ein größeres Bild, das er mir in Auftrag gab, vorgestreckt hatte.
Dieter Rosenkranz war einer der wenigen aus meinem Freundeskreis, den auch Stockhausen mochte. Er war Besitzer und Leiter einer Webmaschinenfabrik, Kunstsammler und Mäzen. Was die beiden Männer verband, war ihre hohe Arbeitsmoral, wenn auch auf unterschiedlichen Gebieten. »Nicht nur
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