Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Komponisten heute imstande seien, zum Beispiel Töne zu erfinden oder Klanggebilde zu erschaffen, die zu völlig unbekannten Hörerlebnissen führten, wie sie dazu Sinusgeneratoren benutzten und dabei mathematischen Vorlagen folgten.
Er geriet immer mehr ins Schwärmen. Doch Gloria wurde zusehends nachdenklicher. Schließlich unterbrach sie ihn. Ja, diese Erfindungen, deren Anfänge ihr Vater ja erlebt hatte, gerade die seien es gewesen, die ihn verbittert hätten. Ihr Vater habe unter allen Tenören der Welt die höchsten Töne am längsten halten können. Und dann kam die Schallplattenindustrie mit ihren immer raffinierteren Aufnahmetechniken, die jeden Ton eines mittelmäßigen Sängers um Sekunden habe verlängern können. Und das habe Caruso doch sehr gekränkt, auch wenn sein Ruhm und seine charismatische Ausstrahlung dadurch nie geschmälert wurden und er andererseits zu großem Reichtum eben durch die Vervielfältigungstechnik der Schallplattenindustrie gekommen sei. Ihr Haus und ihren Lebensstil verdankte sie diesen Einnahmen.
Jack wollte für uns auch ein Treffen mit Alma Mahler-Werfel organisieren, die seit 1951 in New York lebte. Karlheinz war neugierig auf die einstige Grande Dame der frühen Wiener Avantgarde. Die einst so Schöne, zu diesem Zeitpunkt bald Fünfundachtzigjährige, nannte man überall nur »die große Witwe«. Und schon machte Jack Witze und warnte Stockhausen: »Sie wird dich verschlingen, dich aufreihen auf ihre Perlenkette der Genies. Doch sicher, auch der Zerfall hat seine Reize.«
Ich fühlte mich verleitet, Partei für Alma Mahler zu ergreifen – was ich im Übrigen immer tat, wenn man Menschen abstempelte, sich moralisch über sie entrüstete. Ich gab zu bedenken, dass an dieser Frau einiges lobenswert sein müsse, denn die großen Künstler, deren Muse oder Ehefrau sie war, hätten nicht allesamt irren können. Und ihre Polygamie könne man ihr auch nicht zum Vorwurf machen, nur weil sie eine Frau sei. Den Männern laste man das doch auch nicht an, es steigere meist sogar ihr Ansehen. Alma Mahler-Werfel schien mir eine leidenschaftliche Frau zu sein. Und dass sie sich in ihrem hohen Alter noch für Musik interessiere, dass sie sogar wisse, dass da ein Komponist namens Stockhausen aus der übernächsten Generation elektronische Musik mache, zeuge doch von ihrer Offenheit.
Beim Rätseln über die Frage, woher Alma Mahler überhaupt von Stockhausen gehört haben könnte, verfielen wir auf den mit ihr gut bekannten Igor Strawinsky, der einmal gesagt hatte: »Stockhausen gehört die Zukunft.« Das war damals eine erstaunliche Aussage, wenn man bedenkt, dass dieser ja seinen Aufstieg in Darmstadt zunächst in der Nachfolge von Webern und Schönberg begonnen hatte – und Strawinsky und Schönberg waren sich nicht wohlgesinnt. Vielleicht hatte Strawinsky, der seit den Fünfzigerjahren mit Stockhausen in Kontakt stand, auch unsere ménage à trois , die wir ja offen lebten, bewundert. Möglicherweise erinnerte sie ihn an seine eigene Zeit einst in Frankreich, als ihm als Familienvater und Ehemann eine leidenschaftliche Affäre mit Coco Chanel nachgesagt wurde.
Im Stillhouse wollten wir eigentlich unsere Dreierehe in aller Ruhe leben, doch was wir uns ersehnt hatten, eine stille Zeit der Klärung miteinander, das trat nicht ein. Aus dem Stillhouse wurde ein crazy house , so nannten wir es später. Alles wurde noch komplizierter.
Einmal gingen Doris, Karlheinz und ich in New York ins Theater und übernachteten danach in einer Wohnung am Central Park South, die Jack Brimbergs Eltern gehörte. Stockhausen würfelte, mit wem er die Nacht verbringen würde; ich verlor und akzeptierte. Aber das laute Jauchzen aus dem nahen Raum ihrer Liebesnacht machte mir dann doch zu schaffen. Ich trat auf den Balkon meines Zimmers, und schreckliche Gedanken kamen mir. Ich ertrug mich nicht mehr mit solch grässlichen Gefühlen, ich würde mein Leben beenden, dann könnten die beiden ohne mich neu beginnen. Das war mein erster Plan. Aber nein, dann würden sie ja von Schuldgefühlen geplagt sein.
Also dachte ich mir etwas anderes aus. Nach Süden, ans Meer. Ich würde mir ein Hotel buchen, dort den Koffer abstellen, mir ein Ruderboot mieten und damit verschwinden. Dann würde ich einige Klamotten im Boot liegenlassen. So sähe es wie ein Unfall aus, und keiner brauchte sich schuldig fühlen. Ich würde irgendwo an Land schwimmen und mich nach Südamerika aufmachen, unter falscher Flagge. Irgendwie
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