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Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Titel: Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bauermeister
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Rebecca Horn lebte, spielte ich mit dem Gedanken, ihn einmal im Centre Pompidou zu besuchen, aber ich tat es nicht. Der verbliebene Zauber jener Nacht sollte nicht angerührt werden durch Worte oder ein Wiedersehen.
    In einem anderen, viel weiteren Sinn untreu bin ich Stockhausen einmal bei einem Erlebnis auf der Straße gewesen. Noch heute bin ich erschüttert, wenn ich an die Intensität dieses Erlebnisses zurückdenke. Ich ging die Fifth Avenue hinab nach Downtown Manhattan und war dabei recht elegant gekleidet, trug einen schwarzen Seidenmantel mit Pelzbesatz und einen rosa Hut über meinen langen Zöpfen – das Magazin The New Yorker hatte mich einmal als »six-foot-tall Lorelei«bezeichnet. Links kam mir ein Invalide entgegen, ohne Beine, auf ein Rollbrett geschnallt, hinter sich, auf dem Brett festgezurrt, ein Bündel Habseligkeiten. Er stieß sich mit seinen behandschuhten Händen vom Bürgersteig ab, um sich fortzubewegen, und seine Augen richteten sich auf mich. Ich erschrak über die Tiefe und Schönheit dieses Blicks, wurde hineingesogen in das Charisma dieses Menschen. Ich hatte das Gefühl, in diesen Augen zu Hause zu sein, fühlte mich aufgehoben in seinem Blick.
    Als Kind hatte es mich immer magisch zu Schaustellern, Zirkusleuten oder Zigeunern hingezogen. Wie hatte ich gehofft, dass sie mich zu sich nähmen, mit sich auf ihren Fahrten, irgendwohin. Es hieß ja, sie hätten keine feste Bleibe, ihre Heimat sei der Clan. Als ich nun diesem Mann in die Augen sah, ergriff mich eine ähnliche Sehnsucht wie in meiner Kindheit. Unwillkürlich spürte ich eine Seelenverwandtschaft mit diesem Invaliden. Mich überkam der Drang, all meine eleganten Klamotten auszuziehen und mich mit ihm auf das Brett zu seinen Habseligkeiten zu setzen.
    Ich tat es nicht. Unsere Begegnung kann nur Sekunden gedauert haben. Er rollte weiter, und ich lehnte mich an die Hauswand, schaute ihm nach, noch bewegt von meinem inneren Aufruhr. Auch er drehte sein Brett etwas seitwärts, so dass er zurückblicken konnte, und noch einmal sahen wir uns tief in die Augen und durch uns hindurch in die Unendlichkeit. Dann rollte er davon, und ich ging bis zur nächsten Kirche, um mich auf die Stufen vor dem Gebäude zu setzen. War das möglich? Sich in wenigen Sekunden zu erkennen, Ja zueinander zu sagen und sich wieder zu trennen, alles in einem? Ich musste an meine erste Begegnung mit Stockhausen auf der Hohe Straße in Köln denken, wo uns ein ähnlich intensiver Blick zueinander gezwungen hatte. So schrieb ich ihm damals aus New York einen Brief und gestand ihm, dass ich beinahe mit einem Versehrten, Gestrandeten auf dessen Wohnbrett gelandet sei.
    Eine dritte, eher nur gedankliche Untreueszene ereignete sich in jenem Sommer auf Fire Island, einer New York vorgelagerten Insel. Ein schwerer Sturm hatte sie verwüstet; Ferienhäuser und Sommerresidenzen waren umgelegt worden wie Schachteln; sie lagen mit allem Inhalt und Mobiliar verstreut am Strand. Eine mir befreundete Künstlerin und Dozentin der Kunstphilosophie, Suzi Gablik, versammelte ihre Freunde, um nach dem wahrscheinlich auch zerstörten Ferienhaus ihrer Familie zu sehen. Der Dirigent Leonard Bernstein, der Künstler Ray Johnson, die Komponisten David Behrman und Alvin Lucier waren mit von der Partie.
    Eine Fähre brachte uns hin. Am grauen Himmel kreischende Möwen, es war wie eine Fahrt über den Styx. Die Verwüstung war total, wenn auch anders als die im Krieg erlebte. Man konnte keinem Feind die Schuld geben, mit der Natur war nicht zu hadern, sie ist, wie sie ist. Möbel, Eisschränke, Kleider, Schuhe, alles lag teils im, teils auf dem Sand. Wir wanderten schweigend den Strand entlang, bis wir an einem halbversunkenen Klavier ankamen. Es war sonderbar: Die Musiker gingen weiter, nur Ray Johnson und ich blieben beim Klavier, setzten uns in die Sandmulden und entlockten dem Instrument Töne, belebten es wieder und konnten nicht genug bekommen von den seltsam erstickten Klängen.
    Möwen umkreisten uns, es fing an zu nieseln, wir spielten immer leiser, unsere Töne immer vereinzelter, bis die Stille sich unser ganz bemächtigte. Lange verharrten wir dort. Meine Sicht aufs Wasser hinaus wurde zu einer Vorahnung: Ich sah Ray im Meer verschwinden. Ja, so würde er einmal sterben.
    Über dreißig Jahre später, im eisigen Januar 1995, ist Ray Johnson dann tatsächlich über eine Brücke in den Long Island Sound gesprungen, mit hunderttausend Dollar in der Hosentasche. Sein Tod war

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