Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
sich außen daran befand, anbinden. Immerhin waren wir nun beisammen, aber ein gewaltiger Sog zog uns ins offene Meer hinaus.
Karlheinz schien die Gefahr zu erkennen. Er kämpfte sich an den Strand zurück, um Hilfe zu holen. Mir war klar, dass ich als gute Schwimmerin bei den andern bleiben sollte. Ich bemühte mich, die aufgeregte und erschöpfte Mutter und den Sohn irgendwie beisammenzuhalten. Mimmo war ins Boot geklettert und begann, mit dem verbliebenen Paddel quer zur Strömung zu steuern. Die Wellen kippten das Boot manchmal fast um, aber dank der Vertäuung miteinander gelang es uns, stückchenweise – man konnte es nur anhand des vorbeiziehenden Landstreifens beurteilen – vorwärtszukommen.
Da sah ich Stockhausen endlich am Ufer ankommen. Gott sei’s gelobt, dachte ich, seine Kinder behielten ihren Vater, und auch die moderne Musik schien gerettet. Die Vorstellung, dass ein Komponist seiner Größe und zugleich der Vater von vier Kindern auf einer Reise mit seiner Geliebten verunglückte, war mir unerträglich.
Es dauerte freilich mehr als eine Stunde, bis auch wir endlich in Strandnähe gelangten, von wo uns Karlheinz entgegenkam und uns ein dickes Seil zuwarf, an dem herbeigeholte Fischer uns dann an den Strand zogen. Wir lagen lange wie tot vor Erschöpfung im Sand. Mutter und Sohn hielten sich weinend in den Armen, Mimmo kämpfte mit Atemnot und Muskelkrämpfen, Karlheinz saß stumm daneben. Was war in ihm vorgegangen in der letzten Stunde? Meinte er in dieser Geschichte ein schlimmes Vorzeichen zu erkennen?
Auf der Heimfahrt begrüßten uns die Dorfbewohner mit freudigen Rufen: Auguri, Gott sei’s gelobt! Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass diesmal die Fremden nicht ertrunken waren, wie schon manches Mal zuvor. Nein, hier solle man niemals schwimmen gehen, die Strömung sei teuflisch. Ein Polizist, der herbeigeeilt war mit Notizbuch und Stift, um den Unfall zu protokollieren – er wollte eigentlich nur die Anzahl der Ertrunkenen notieren –, fuhr vor uns her wie im Siegeszug, als hätte er uns gerettet. Auguri , Auguri , Auguri , Bekreuzigung, Gebete, Amen und Grazie , Maria Madonna mia .
Als wir im Palazzo ankamen, verzog ich mich mit Bauchkrämpfen ins Bett. Mir wurde klar, dass eine von mir zunächst nicht bemerkte Schwangerschaft zu Ende ging. Ich musste an das Versprechen denken, das ich Doris gegeben hatte: keine Kinder in den ersten fünf Jahren! Die Natur schien mich daran erinnern zu wollen.
Es dauerte noch Tage, bis wir unsere alte Unbekümmertheit wiedergewannen. Und dann fuhren wir auch schon nach Palermo, wo die Proben zu Momente begannen. Sie gerieten leider zu einem Fiasko. Es zeigte sich, dass das Orchester die Partitur nicht bewältigte. Die Musiker waren zu italienisch, zu sehr noch in der Verdi-Nachfolge, ganz dem Belcanto verpflichtet. Die Komplexität von Stockhausens Kompositionen begriffen sie nicht. Einer der Sänger kommentierte: »Das ist einfach überhaupt keine Musik.«
Luciano Berio, der italienische Komponist und Gründer des Studios für elektronische Musik in Mailand, der auch zum festen Dozentenkreis der Darmstädter Ferienkurse gehörte, war bei uns in Palermo und bestärkte Stockhausen darin, die Proben aufzugeben. Das sei besser, als mit einem katastrophalen Ergebnis leben zu müssen. Es kam also zum Abbruch, das Konzert wurde abgesagt. Als Stockhausen zurück ins Hotel kam, sagte er bedrückt: »Heute war der Teufel im Konzertsaal.« Er nahm das Misslingen als Vorzeichen eines möglichen Scheiterns seiner ganzen Musikerkarriere.
Wenigstens entstanden aus vielen Gesprächen zwischen Stockhausen und mir auf Sizilien zwei weitere seiner Werke. Für das erste, Raising Silence , hatte ich nach seinen Angaben in Rot, Grün und Gelb eine Partitur gemalt, seine erste bunte Notation. Im Unterschied zu Cage, in dessen Stück 4'33'' für vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden nur Stille herrscht, wollte Stockhausen auf eine Stille »hinmusizieren«, indem er einen Tutti -Akkord der Streicher sich auffächern lässt durch Verschiebung in die Horizontale. Er verwarf das Stück dann wieder und schrieb das zweite: Plus-Minus , ein extremes Beispiel seiner neuen, offenen Kompositionsweise. Es erlaubte Deutungen und Ausarbeitungen durch andere Komponisten und Interpreten und diente ihm als Vorbereitung für den ersten der Kölner Kurse für Neue Musik im Oktober 1963, zu deren Leiter er berufen worden war. Die Kölner Kurse sollten eine Art neue
Weitere Kostenlose Bücher