Ich hasse dich - verlass mich nicht
passives Verhalten und die Verhaltensweisen seiner Frau und anderer Menschen in seinem Leben verdeutlichen. Er muss erkennen, dass er sich zu einem gewissen Grad selbst in eine Position bringt, in der er von anderen missbraucht wird. Obwohl er daran arbeiten kann, diese Situation in der Zukunft zu ändern, muss er sich jetzt mit der Gegenwart beschäftigen. Das heißt, er muss seinen Zorn und die Gründe dafür erkennen und sehen, dass es keine andere Wahl gibt, als diesen Zorn zu akzeptieren. Er kann zumindest nicht im Augenblick irgendetwas daran ändern. Obwohl er unannehmbare Gefühle vielleicht bedauert, hat er keine Macht, dies zu ändern (ein Ausspruch, der ähnlich auch von den Anonymen Alkoholikern getroffen wird). Diese unbequemen Gefühle zu akzeptieren bedeutet, sich selbst als unperfekten Menschen zu akzeptieren und die Illusion aufzugeben, dass man unkontrollierbare Faktoren kontrollieren kann. Wenn Paul seinen Zorn oder seine Traurigkeit oder irgendein anderes unangenehmes Gefühl akzeptieren kann, kommt es bei dem Phänomen, »sich schlecht zu fühlen, weil man sich schlecht fühlt«, zu einem Kurzschluss. Dann kann er dazu übergehen, andere Aspekte seines Lebens zu ändern.
Ein großer Teil der Erfolge in Pauls Leben ist darauf zurückzuführen, dass er sich Mühe gab: Fleißiges Lernen führt in der Regel zu besseren Noten. Härteres Training führt normalerweise zu besserer Leistung. Doch in einigen Lebenssituationen ist genau das Gegenteil gefragt. Je mehr der Betreffende die Zähne zusammenbeißt, die Fäuste ballt und versucht einzuschlafen, desto wahrscheinlicher ist es, dass er die ganze Nacht über wach liegen wird. Je stärker er versucht, sich zu entspannen, desto angespannter wird er sich fühlen.
Die Borderline-Persönlichkeit, die sich in diesem Dilemma befindet, befreit sich meistens dann, wenn sie es am wenigsten erwartet – wenn sie sich entspannt, weniger zwanghaft wird, weniger Forderungen an sich stellt und lernt, sich selbst zu akzeptieren. Es ist kein Zufall, dass die Borderline-Persönlichkeit, die eine gesunde Liebesbeziehung sucht, sie eher dann findet, wenn sie am wenigsten danach sucht und sich Aktivitäten hingibt, die zur Selbstverwirklichung führen. In diesem Augenblick ist sie für andere attraktiver und steht weniger unter Druck, nach sofortigen und unrealistischen Lösungen für ihre Einsamkeit zu greifen.
Das ewige Opfer
Die Borderline-Persönlichkeit gerät oft in missliche Lagen, in denen sie zum Opfer wird. Paul nimmt sich beispielsweise als hilflosen Menschen wahr, auf den andere reagieren. Die Borderline-Persönlichkeit ist sich häufig nicht bewusst, dass ihr Verhalten provozierend oder gefährlich ist oder dass es in irgendeiner Weise zur Verfolgung einlädt. Die Frau, die ständig Männer wählt, die sie missbrauchen, ist sich normalerweise der Muster, die sie wiederholt, nicht bewusst. Die gespaltene Sichtweise der Borderline-Persönlichkeit von sich selbst umfasst einen guten, berechtigten Teil und einen zornigen, wertlosen Teil, der auf masochistische Weise bestraft werden muss, obwohl sie sich der einen oder anderen Seite vielleicht gar nicht bewusst ist. Tatsächlich ist das Muster von »herausfordernder« Opferung oft ein starkes Anzeichen für eine vorliegende Borderline-Pathologie.
Auch wenn die Rolle des Opfers sehr unangenehm ist, kann sie ihre positiven Seiten haben. Ein hilflos Umhergetriebener, der von den turbulenten Wogen einer unfairen Welt umhergeworfen wird, ist für manche Menschen sehr attraktiv. Das Gespann hilflos Umhergetriebener und starker Partner, der das Bedürfnis hat, andere zu retten und sich um sie zu kümmern, befriedigt die Bedürfnisse beider Seiten. Die Borderline-Persönlichkeit findet einen freundlichen Menschen, der totalen Schutz verspricht. Und der Partner erfüllt sich den eigenen Wunsch, sich stark, beschützend, wichtig und gebraucht zu fühlen – derjenige zu sein, der »den anderen vor allem schützt«.
Fall 3: Annette
Annette entstammte einer armen, schwarzen Familie. Ihren Vater hatte sie sehr jung verloren, als er die Familie im Stich ließ. Mehrere Männer hintereinander übernahmen jeweils für kurze Zeit die Rolle des »Vaters« zu Hause. Schließlich heiratete ihre Mutter wieder, aber ihr zweiter Mann war ebenfalls ein Trinker. Als Annette etwa acht Jahre alt war, begann ihr Stiefvater sie und ihre Schwester sexuell zu belästigen. Annette hatte Angst, ihrer Mutter davon zu erzählen, die froh war,
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