Ich hatte sie alle
selten, diese freundliche Mentalität mit nach Hause zu nehmen. Sie sitzt da und raucht, trinkt Milchkaffe aus einer dreckigenMetalltasse und befiehlt ihrem gelangweilten Labrador, von den Kunden wegzubleiben, die sind nämlich »pfui«. Wenn jemand in den Laden kommt, der nicht ihr Musikerfreund ist, dem sie stundenlang von ihrem Elend erzählen kann, lupft sie höchstens mal eine Augenbraue, um dann so zu tun, als ob sie in einem wirklich erbaulichen Buch läse.
Und obwohl diese Frau ein absolut unerträgliches Biest ist, beten alle Vierzehnjährigen der Stadt sie an wie eine Göttin. Wenn das Szeneprinzesschen mal etwas anderes zu ihnen sagt als »Hängste das bitte wieder richtig auf«, ist der Tag gerettet. Wenn die Prinzessin beispielsweise einen wirklich anerkennenden Satz spricht wie etwa: »Sitzt doch ganz gut am Arsch, ich würde die nehmen«, hat man es geschafft.
Ich konnte es nicht schaffen. Ich hatte es mir mit der ortsansässigen Prinzessin gleich am ersten Tag verscherzt; eine ganz dumme Sache war das gewesen. Ich nahm eine echt tolle Jeans mit in die Kabine, toll deshalb, weil die Prinzessin das gleiche Modell trug. Und weil das alles schon total aufregend war, nahm ich die Hose auch gleich in ihrer Größe – nicht in meiner. So erbaulich kann ihr Buch an dem Tage nicht gewesen sein, denn sie hörte, wie es ratsch machte, stürmte in die Kabine und kreischte: »Biste bescheuert, oder was? Die Hose ist aus Amerika importiert, die haben die da extra so cool kaputt gemacht. Und du hast sie jetzt … uncool kaputt gemacht! Ich bekomme 140 Mark von dir!« Ich gab ihr kleinlaut das Geld und ging mit meinen Jeansstreifen nach Hause.
Mein Quartalsbudget war aufgebraucht, also lief ich den ganzen Winter lang in einem langen Parka aus der Altkleidersammlung herum. Im Sommer trennte ich einfach das Futter heraus.
Seitdem mache ich mir nicht mehr viel aus Klamotten. Ab und zu gehe ich in einen Secondhandladen, um die Prinzessinnen zu schocken: Ich stelle mich in die Kabine und ratsche am Klettverschluss meines Rucksacks herum. Das Geräusch macht sie immer noch fertig. Neulich hat eine beim Aufspringen ihren Milchkaffee umgeworfen. Direkt auf ihre blöde Jeans. Das war ein schöner Tag.
Manchmal bin ich neidisch auf meinen Freund. Mein Freund nennt seine Oma »die Nana«, und die Nana ist trotz ihres Alters und ihrer hundert Kilo auf hundertsechzig Zentimetern ein höchst agiles Persönchen. Sie redet die ganze Zeit serbisch und klopft mir dabei nach jedem Satz bekräftigend und breit grinsend auf den Oberschenkel. Ich stimme ihr immer zu, und sie freut sich darüber. Die Nana und ich, wir verstehen uns prächtig.
Meine eigene Oma, die Mutter meines Vaters, hieß bei uns zu Hause nur »die alte Dame«. Ich habe sie nie mehr als zehn Meter am Stück gehen sehen, und unser Verhältnis war ein bisschen gestört, weil sie deutsch sprach und ich auch.
Zwischen mir und der alten Dame lief alles genau bis zu dem Tag gut, an dem ich geboren wurde. Sie hatte einen Jungen erwartet, den sie Rudolf zu nennen gedachte. An meinem dritten Lebenstag machte sie sich trotzdem zum Krankenhaus auf, um meiner Mutter ihre Aufwartung zu machen. Sie kam mit einem Strauß Nelken, den einzigen Blumen, die meine Mutter verabscheut,und sagte zu ihr: »Mach dir keine Sorgen, Waltraud, ich habe die Karten befragt. Du bekommst noch einen kleinen Stammhalter, wart’s ab!«
Meine Mutter war so sauer, dass sie sich fünf Jahre lang extrem zusammenriss, bevor sie meinen Bruder gebar. Zu ihrem Ärger genau an dem Termin, den die alte Dame aus den Karten vorhergesehen hatte.
Meine Oma begrüßte mich stets mit den Worten: »Na ja, wo sie schon mal da ist …« und lehrte mich dann Dinge, die sie für wichtig hielt. Den Buchstaben »R« zum Beispiel. Denn unsere alte Dame hat es nie verwunden, dass mein Vater lange Zeit massive Probleme mit diesem Konsonanten hatte. Bei seiner Einschulung hatte die alte Dame den Familienbeinamen »derer zu Erbdroste« schweren Herzens aufgegeben, um meinen Vater vor Hänseleien zu schützen. Er hatte schließlich schon genug mit seinem Vornamen Werner zu erleiden.
Ich versuchte mich bei meiner Oma einzuschleimen, indem ich sehr früh sprechen lernte: »Rallo, Omarr Rrruth, Frrrau Errrbdrooste von Buddenkrrrrotte«. Meine Eltern brauchten Jahre, um mich zu entnazifizieren.
Aber meine alte Dame begann, mich irgendwie zu mögen. Sie förderte mein Sprachtalent. Mit sieben wurde ich zum zwölfjährigen
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