Ich, Heinrich VIII.
abschüssigen Pfad, der im Grab endet.
Ihre Hände!
Heftige Übelkeit packte mich; gallig quoll es mir im Schlund herauf, und ich erbrach mich in das Becken auf meinem Waschtisch.
Annes sechster Finger.
Sie hatte einen sechsten Finger an der linken Hand, einen krallenähnlichen Auswuchs, der von ihrem kleinen Finger abzweigte. Sie trug lange Ärmel, um ihn zu verdecken, und war über alle Vernunft hinaus geschickt darin, ihn zu verbergen. Ich selbst hatte ihn nur ein- oder zweimal gesehen, und so stark war ihr Zauber gewesen, so blind und verwirrt war ich infolgedessen in ihrer Gegenwart, dass ich ihn wohl gesehen, aber eben doch nicht gesehen hatte.
Ein Hexenzeichen.
Wieder übergab ich mich, würgte grüne Galle hervor, und die Galle bespritzte den Rand der Schüssel in höhnischer Imitation der Smaragde, die dort prangten.
Sie konnte meine Gedanken lesen. Auch jetzt wusste sie, was ich dachte. Mir fiel ein, wie sie gewusst hatte, dass ich über einen Ersatzeid für More nachgedacht hatte, ohne ihn doch je zu Papier zu bringen.
Doch nein. So groß war ihre Macht nicht, dass sie bis hierher dringen konnte. Ich war in Sicherheit, solange ich mich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt.
Aber die Verwirrung und der Aufruhr in meinem Kopf hielten an. Sie konnte meine Gedanken in Unordnung bringen, sie aus der Ferne vernebeln, aber sie konnte sie nicht lenken oder lesen.
Sie musste in Gewahrsam genommen werden. Ich würde ihre Gemächer bewachen lassen. Und dann würde ich von hier fortgehen, weit ins Land hinaus, wo meine Gedanken frei und rein sein konnten und wo ich wieder Kräfte sammeln und planen konnte, was zu tun war.
Ich würde meine Befehle geben. Am Morgen. Sobald es hell würde.
LXV
I ch wartete auf dieses Morgenlicht mit einer Inbrunst, die ich für allezeit verloren geglaubt hatte. Sie gehörte in die Kindheit, in jene Zeit, da die Dunkelheit ein Feind und nur das Licht freundlich gewesen war. Den Mond bei Tage hatte man als Kindermond bezeichnet, denn wir hatten ihn lieber bei Tageslicht gesehen …
Der Morgen graute und brachte mir Erlösung. Im klaren Licht erschienen mir meine Erkenntnisse über Anne nicht absurd, wie es morgens meistens der Fall ist. Im Gegenteil, sie waren noch offenkundiger und sicherer.
Anne war eine Hexe. Sie war besudelt vom Bösen, und sie praktizierte das Böse, sie nährte das Böse und nutzte es für ihr eigenes Fortkommen in dieser Welt.
Die vergangene Nacht hatte ihr gehört. Der Morgen war mein. Und ehe es wieder Nacht wurde, musste ich weit fort sein.
Ich war seit einem Jahr nicht auf der Jagd gewesen. Die Jagd auf Hirsch und Reh, mein Lieblingswild, war eröffnet worden, während Annes »Schwangerschaft« mich an ihre Seite gefesselt hatte. Ich würde auf die Jagd gehen, zu sauberem Waidwerk bei Tageslicht.
Der nächste Wald, in dem es solches Wild im Überfluss gab, war der Savernake in Wiltshire, drei lange Tagesritte weit im Westen von London. Sir John Seymour, mein alter Waffengefährte, hatte sich vor einigen Jahren dorthin auf sein Schloss zurückgezogen und war Aufseher des Königlichen Jagdreviers zu Savernake.
Dort würde ich hinreiten, ein paar Tage in Wolf Hall verbringen und mit den furchtbaren Offenbarungen ringen, die mir aufgezwungen worden waren. Ich würde allein reiten. Es gab keine Gefährten, deren Gesellschaft ich mir gewünscht hätte. Aber ich brauchte doch jemanden, aus Gründen der Sicherheit. Jemanden, den ich liebte, jemanden, der still wäre. Wen konnte ich bitten …?
Es raschelte vor meiner Tür. Ich hatte nicht in meinem Bett geschlafen – ich hatte überhaupt nicht geschlafen –, und nun suchte Henry Norris nach mir. Henry Norris war der Richtige. Diskret. Schweigsam. Mir treu ergeben.
Ich öffnete ihm. »Macht Euch reisefertig«, befahl ich in munterem Ton. »Ich will nach Wiltshire reiten, auf die Jagd, und ich wünsche, dass Ihr mich begleitet.« Als ich sein überraschtes Gesicht sah, fügte ich hinzu: »Es ist nur für ein paar Tage.«
Ich durfte keine Hast zeigen, keinen Hinweis darauf, dass ich floh. Trotzdem musste Anne festgesetzt werden, und man musste verhindern, dass sie sich von der Stelle rührte. Ich wusste nicht, was ich mit ihr anfangen sollte oder was überhaupt notwendig war. Ich konnte nicht nachdenken. Ich war betäubt von dem, was ich jetzt wusste. Es hatte alles verändert, doch jetzt war ich derjenige, der eine Maske tragen musste. Ich brauchte Zeit, Zeit zum Nachdenken, Zeit, mich zu
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