Ich, Heinrich VIII.
den Ehrenplatz zur Rechten des Gastgebers. Dann führten sie ihn herein; Edward hatte den linken, Thomas den rechten Ellbogen umfasst. Liebevoll setzten sie ihn auf seinen Stuhl.
Er sah nicht anders aus. Er war derselbe John Seymour, der mit mir in Frankreich gekämpft und mit mir zu Tische gesessen hatte. Seine Züge waren unberührt, seine Augen ganz die alten. Äußerlich ist alles, wie es sein sollte; also ist der Rest genauso gut erhalten. Das glauben wir.
Seine blauen Augen ruhten auf mir. Sie betrachteten mein Haar, mein Gesicht, mein Gewand.
»Wer ist das?«, fragte er in nörgelndem Ton.
»Es ist der König, Vater«, antwortete Edward. »Er ist gekommen, um mit uns auf die Jagd zu gehen.«
»Der König?«
Er hatte mich gekannt, mit mir gescherzt, war mit mir geritten.
»König Heinrich. Heinrich der Achte.«
Er nickte, aber es lag kein Verstehen in seinem Blick. Erinnert Euch an die Schlacht der Sporen, wollte ich zu ihm sagen. Ihr wart den Franzosen damals dicht auf den Fersen. Erinnert Euch, wie sie rannten!
Er lächelte. Das Lächeln eines Idioten. Es war alles verschwunden. Aber nein, das konnte nicht sein. Hinter diesem Gesicht war es noch vorhanden. Er lebte, er nickte, er aß – wie konnte Sir John verschwinden? Er war noch da, und wir wussten nur nicht, wie wir ihn hervorrufen sollten.
»Oh, es war lustig!«, sagte er. »Lustig, lustig … niemand ist lustig. Heute nicht mehr.« Er schob seinen Löffel auf dem Teller umher.
Ein Kind. Er war zu einem Kinde geworden; seine Uhr war rückwärts gelaufen. Aber das war gegen die Natur. Entweder wurden wir getötet, oder wir erloschen in Schwäche. Aber wir verwandelten uns nicht wieder in Kinder.
»Aber Vater.« Eine sanfte Stimme, und zwei Hände, die ihn streichelten, sein Essen auf dem Teller ordneten. Das Gemüse – Möhren und Pastinaken – auf die eine, das Hammelfleisch auf die andere Seite. Er lächelte und tätschelte ihr die Hände.
Ich schaute genauer hin, um zu sehen, wer sie war. Zunächst erkannte ich nichts außer dem mattbraunen Kleid einer Dienerin mit einer weißen Haube. Ich griff nach ihrer Hand.
»Ihr seid freundlich, Mistress«, stellte ich fest. Sie wirkte so unaufdringlich und doch so tüchtig.
Sie wich vor mir zurück, nicht bescheiden, sondern gekränkt.
»Es ist kaum Freundlichkeit, wenn man seinem eigenen Vater behilflich ist«, erklärte sie und zog ihre Hand weg.
»Jane?«, fragte ich, aber sie war schon fort.
»Die Franzosen sind übel«, sagte Sir John. »Sie belauern uns. Sie haben sich nicht gebessert. Aber der Papst ist noch schlimmer. Dieser neue … er ist viel härter als Klemens.« Er schüttelte den Kopf, scheinbar hellwach und in die Politik vertieft, wie er es früher gewesen war. »Es heißt, er lutscht an seinen Zehen.« Er gackerte gespenstisch.
Edward und Thomas aßen weiter.
»Es heißt, er lutscht an seinen Zehen!«, beharrte Sir John, so laut jetzt, dass es von den alten Deckenbalken über uns widerhallte. »Und außerdem muss der Nordturm ausgebessert werden!«
Sobald es mit Anstand möglich war, verließ ich die Halle. Bedienstete brachten Sir John zu Bett, und ich suchte das meine auf. Es war schmal, hart und muffig. Die Morgenmesse in der nahen Pfarrkirche begann um sechs. Ich würde daran teilnehmen. Jetzt aber schlief ich ein in meinen Gebeten – für Sir John, für Anne und für mich.
Wir alle kamen zur Messe – das ganze Haus Seymour bis auf Sir John. Sie wurde kurz und ohne Umschweife gelesen. Der Priester, der da sein Latein murmelte, war ebenso grau und farblos wie das Gemäuer, das ihn umgab. Er musste sein ganzes religiöses Leben hier verbracht haben, hin und her schlurfend zwischen seiner Wohnung und dem kleinen Altar, ohne eine einzige Überraschung oder Herausforderung. Schon dadurch, dass er fortfuhr, unter solchen Umständen weiter seine Pflicht zu erfüllen, war er ein Held, ein stummer Soldat Christi.
Als wir die kleine Kirche verließen, wandte ich mich Jane zu, Edwards jüngerer Schwester. Sie war blasser denn je im matten Licht des Morgens.
»Ihr dient Eurem Vater gut«, lobte ich. »Es ist eine undankbare Aufgabe, doch eine, die Ihr mit Liebe erfüllt.« Wie bestürzt ich war, zu sehen, dass Sir John nicht mehr er selbst war, konnte ich ihr nicht sagen.
»Es ist keine undankbare Aufgabe«, widersprach sie. Ihre Stimme klang vertraut. Sie hatte einen leichten Akzent, einen Fehler vielleicht. »Er dankt es mir. Und es ist gut, dass ich ihm vergelten kann,
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