Ich, Heinrich VIII.
Nicht bei ihm. Aber das war kein Grund zur Besorgnis. Ah, ich sah sie – bei Lady Latimer, einer ebenso jungen, aber ernsthaften Frau. So anders als Anne waren sie alle …
William Fitzwilliam, der Geheimsiegelbewahrer, ein Mann in meinem Alter, stand mit den beiden Herzögen zusammen. Er mochte Anne nicht (ohne dass er es je offen gesagt hätte: Er vermittelte es mit jeder seiner verächtlichen Gesten. Zu gern hätte ich miterlebt, wie er den Eid ablegte, denn zweifellos hatte er es mit spöttischer Gebärde getan, die seine Worte Lügen strafte). Sein verwittertes Gesicht blickte störrisch wie ein Esel, während er auf den Absätzen wippte und die neueste Manifestation ihrer Torheit erwartete. An seiner Seite hatte er den braven, zuverlässigen John Poyntz aus Gloucestershire; er hatte ein Gesicht, wie ich es überall am Straßenrand sah, wann immer ich auf Staatsreise ging. Sein Freund Thomas, Lord Vaux, war bei Annes Krönung zum Ritter des Bath-Ordens geschlagen worden. Vaux hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Thomas Wyatt, verfügte aber nicht über die geringste literarische Fertigkeit, wenngleich er immer wieder versuchte, Gedichte zu verfassen. Neben all diesen stand Cranmer, steif und betulich, als habe er wirklich Gefallen an diesem Abend und warte nun auf das »Schauspiel«.
Einen anderen Kreis bildeten Edward Neville, Nicholas Carew und Henry Courtenay – ein Altschneehaufen von Privilegien und Ideen: Überreste aus einer früheren Zeit, in der sie nie etwas erreicht oder wenigstens erstrebt hatten, schmolzen sie nun in der neuen Zeit dahin und merkten, wie sie verrannen. Chapuys war bei ihnen; ihn mit seinen flinken Bewegungen und seiner nervösen Energie zu beobachten, war immer ein Vergnügen. Wurde der Mann niemals alt? Doch dann, wie ein seltsames Gewächs an dem kleinen Häuflein befestigt, die beiden in England gebliebenen Brüder Pole: Henry und Geoffrey.
Bei dem Gedanken an die Poles erwachte in mir ein Gefühl wie das, welches die Erinnerung an More in mir hervorgerufen hatte. Reginald, der jüngste Pole, den ich in seiner Jugend auf meine Kosten in Italien hatte ausbilden lassen, war ins Ausland geflüchtet und weigerte sich, zurückzukehren. Er war ein brillanter Gelehrter, hoch geschätzt in Padua und am päpstlichen Hof, und soeben hatte er Pro Ecclesiasticae Unitatis Defensione geschrieben, eine Antwort auf meine »Große Sache«. Er war ein großer Verfechter von Katharinas Sache – so sehr, dass sie und ihr Neffe, der Kaiser, der Meinung waren, viele Probleme würden gelöst sein, wenn Maria und Reginald heiraten und dadurch die Rote und die Weiße Rose zu einer Union der Geächteten vereinten. Durch ihre Mutter Margaret zählten die Poles zur Familie der Plantagenets, und sie waren Vettern der ausgestorbenen de la Poles.
Die beiden verbliebenen englischen Pole-Brüder waren traurige Blüten am Strauch der Weißen Rose. Henry Lord Montague war so auffällig und fantasiebegabt wie ein Pflasterstein, und Geoffrey, nervös, schüchtern und kränklich, konnte nachts nur schlafen, wenn eine Kerze brannte. Der Stolz dieser Familie, ihre Begabung und ihr Mut lebten nur noch in Reginald, der sich gegen mich und für den Papst entschieden hatte.
Ein paar Schritt weit abseits, in diskretem Abstand, weilte Cromwell, für diesen Abend modisch gewandet. Abwehrend wahrte die kleine Gruppe diesen Abstand, ohne zu wissen, dass Crum einen seiner Spitzel (eine hübsche Frau) auf der anderen Seite postiert hatte; je weiter sie sich also von ihm zurückzogen, desto näher kamen sie ihr.
Anne rührte sich auf dem Staatssessel an meiner Seite. Ich wusste, ich sollte mit ihr sprechen, aber ich konnte es nicht. Ich hasste sie mit einem so reinen Hass, fürchtete sie mit einer so reinen Furcht, dass ich meiner Stimme nicht traute. Aber wenn ich nicht sprach, würde ich mich damit umso schneller verraten, das wusste ich; also strengte ich mich an.
»Hast du dies schon lange im Sinn gehabt?«, fragte ich. Ich wollte sie nicht ansehen; sie war mir widerwärtig. So sprach ich aus dem Mundwinkel.
»Seit ich dieses Jahr das erste Blatt fallen sah.« Ihre Stimme war betörend wie früher. Sie verhieß mir wichtige Dinge.
»Wird es eine neue Form sein?« Noch immer weigerte ich mich, sie anzusehen.
»Ja. Mit neuen Elementen. Doch nun schau zu! Die Flügel habe ich ganz allein gemacht, als du nicht bei mir warst …«
Eine kleine Bühne hatte man für Annes Schauspieler errichtet. Kleine Blechschirme
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