Ich, Heinrich VIII.
und zertrampelt.
In meinem Kopf drehte sich alles; meine Sinne gehorchten nicht mehr. Ich merkte, dass ich Anne folgte, ließ mich durch einen dunklen, echolosen, verborgenen Gang zerren, hinaus aus der Halle. Westminster war durchzogen von solchen geheimen Verbindungsgängen, denn es war in alten Zeiten erbaut worden. Anne brachte mich fort, fort aus der Sicherheit der Gesellschaft, und dies war der Augenblick, den ich nicht länger vermeiden oder aufschieben konnte.
Ihre Finger waren schmal und so kühl wie die Juwelen daran. Ihr Gesicht sah ich nur, wenn kurz das Licht der blakenden Fackeln in ihren gusseisernen Haltern darüber züngelte. Hinter ihr wehte ihr Kostüm – in großen, wallenden Wellen, einer Rauchfahne gleich. Ich war benommen; der Rauch hatte mich betäubt, wie der Rauch von Jane Seymours Fackel die Bienen betäubt hatte.
Wir waren in einer Kammer. Es war eine kleine Kammer, mit hauchfeinen Schleiern verhangen. Ein seltsamer Geruch erfüllte sie, wie ich ihn noch nie gerochen hatte; er hatte Ähnlichkeit mit nichts anderem, und deshalb kann ich ihn auch jetzt nicht beschreiben; aber er war süß und liebkosend.
»Das Fest ist zu Ende«, sagte ich langsam. Anscheinend waren meine Lippen betäubt.
Anne warf die Kapuze zurück, die ihr Gesicht überschattet hatte. Sie fiel herab, und ihr Gesicht, einzigartig und bezaubernd, ward entblößt. Es zu sehen, hieß, mich der Vergangenheit zu erinnern, sie neu zu durchleben, wiederum in sie einzudringen – in die Vergangenheit, da dieses Gesicht mein Herz mit bedingungslosem Gehorsam und Verlangen erfüllt hatte.
Ich wusste es besser, und doch liebte ich sie wieder. Fast all mein Wesen liebte sie. Aber die Eroberung war nicht vollständig, denn manches in mir hatte sich erst geformt, nachdem ich begonnen hatte, sie zu lieben, und dies waren Bereiche, die sie nicht zurückfordern konnte und die nun drohend abseits blieben. Der Rest indessen war auferstanden wie die Toten am Tag des Jüngsten Gerichts. Und wieder verspürte ich rauschendes Gefühl, Entrückung, Erregung.
Aber nicht ganz. Es war nicht ganz genauso. Ich wusste jetzt mehr; alles war irgendwann verdorben worden, und dieses Wissen setzte sich fest wie ein Steinchen in einem Schuh: Wir mögen immer noch laufen und hüpfen und springen, doch jeder Schritt ist ein Stich, und so hüpfen und springen wir niemals wieder so hoch und so fröhlich.
Ich liebte sie mit ganzer Kraft und von Herzen, aber Geist und Seele waren nicht mehr dabei.
Sie kam zu mir und küsste mich.
Wie viele Monate, wie viele Jahre war es her, dass ich mich genau danach gesehnt hatte? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mich dem Tode nah gefühlt, weil sie es nicht getan hatte. Und nun geschah es, unerwartet und ungebeten, ihr Körper drängte sich an meinen, und alles war so, wie ich es einst ersehnt hatte, und auch wenn es erregend war, so war doch meine Seele nicht befriedigt. Ich war über den Hunger hinausgewachsen, den sie einst hätte stillen können.
Aber mein Leib – mein Judasleib, der ewige Verräter – entbrannte doch und half mir, vielleicht für eine Stunde zu glauben, ich hätte mich nicht verändert, und es sei alles so, wie es einmal gewesen war.
»Mein Lord, mein Geliebter, mein Liebster …« Ihre Worte rannen schmelzend in mein Ohr. Natürlich war ein Bett da, mit reinstem Linnen bezogen, mit Pelzen und Kissen von Schwanendaunen bedeckt. Anne hatte für all das gesorgt, hatte es von ihren Dienern bereiten lassen, ganz wie ich es einst in hitziger Erwartung in meinen eigenen Gemächern getan hatte.
Ihre Worte, ihre Hände, ihre Stimme, das alles griff nach mir, suchte mich zu fassen. Weil ich nun stärker war und im Wesen frei von ihr, sprach es mich umso prickelnder an. Wie nie zuvor, gewahrte ich all die köstlichen Kleinigkeiten an ihr: Wie sie ihre Kleider beiseite warf, sie gar zusammenfaltete, ohne sie wirklich zusammenzufalten; ihre dramatische Fähigkeit, einen kleinen Abstellraum in eine Kammer der Fleischeslust zu verwandeln; die Sinnlichkeit hinter ihrem Verlangen, zu sehen, wie das Licht auf den opalen schimmernden Schleiern spielte, sodass sie von innen zu pulsieren und zu vibrieren schienen. Ich sah das alles, und es gefiel mir; aber diese Wahrnehmung selbst war auf irgendeine Weise Feind der Lust und Anerkenntnis der Tatsache, dass die Zeit sie ausgelaugt hatte.
War es alles verschwunden? Das ist natürlich immer die Frage. Wenn ich in einen Teich hinauswate, mag er an der
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