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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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Auge zu behalten. In Catherine war ich heimgekehrt. Im Herbst meines Lebens hatte ich eine Scheune, in die ich meine Ernte bringen und vor der ich dann in den schrägen Strahlen der gelben Sonne sitzen konnte, in dem Wissen, dass alles gut geraten war. Und dass es noch nicht zu Ende war. Im kommenden Herbst würde es eine neue Ernte geben, das wusste ich. Ich würde weitere Söhne bekommen, von Catherine, prachtvolle Söhne, und Maria und Elisabeth würde England dann nicht mehr brauchen.
    Die Leute behaupteten – später –, ich sei verrückt nach ihr gewesen. Das Gleiche sagten sie über Anne Boleyn, und sie fragten sich, ob beide den gleichen Zauber gegen mich gewirkt haben mochten. Sie waren Cousinen; hatten sie vielleicht gelernt, die gleichen Tränke zu brauen, die gleichen Beschwörungen zu singen? Aber nein, es war ganz und gar nicht das Gleiche. Bei Anne war ich verzehrt, aufgesogen in einem gleißenden Wirbel, in dem alles verschwand, die Welt und ich selbst. Bei Catherine – ah, diese Schönheit, diese Vollkommenheit …
    Wenn ich an mein Gefühl für sie denke und versuche, es mit etwas Ähnlichem zu vergleichen, dann kommt mir immer wieder in den Sinn, wie ich einmal ganz allein mitten im Wald innehielt. Es war still, und ich wollte mein Pferd verschnaufen lassen. Ich band es also an einen Baum, und dann ging ich ein Stückchen, bis ich einen Stein fand, auf den ich mich setzen konnte. Alles war braun in diesem Wald – braune Blätter über mir und braune Blätter als raue Schicht auf dem Boden. Meine Reithose war braun und meine Stiefel auch. Die Pilze zu meinen Füßen, die rings um den Stein wuchsen, waren braun wie ein Reh, wie ein Wiesel, wie Schlamm. Voller Staunen sah ich, wie viele verschiedene Arten von Braun es geben konnte. Und dann erblickte ich einen Schmetterling – einen winzigen, blau schillernden Schmetterling, der seine Flügel auf einem Eichenblatt spreizte. Er schimmerte vor dem braunen Hintergrund wie ein Edelstein in einer samtenen Schatulle.
    Catherine war dieser leuchtende Schmetterling im Herbst meines Lebens. Vollkommen, juwelengleich, mit keinem anderen Zwecke als dem, Schönheit zu bringen – ein Zweck, den sie auf das Beste erfüllte. Ich hütete sie wie einen Schatz, bewachte sie, hing an ihr. Das war nicht das Gleiche wie Wahnsinn.
    Cromwell wurde zu diesen zarten Abenden im Palast zu Lambeth nicht eingeladen, und er zeigte sich überraschend unfähig, seine Neugier zu verbergen. Oh, seine Spione berichteten ihm zweifellos alles, was sich dort zutrug – ob eine Komposition von Tallis zum Vortrag gebracht wurde, was für eine Laute gespielt wurde, ja, in welcher Tonart sie gestimmt war –, aber noch konnten sie die Gedanken der Menschen nicht erkennen, auch wenn sie, wie man mir erzählte, ein Gespräch noch auf fünfzehn Schritt Entfernung von den Lippen abzulesen verstanden. Ein Gedanke, der mich frösteln machte. Cromwell missfiel es, wenn man ihn von kulturellen Ereignissen ausschloss, als wäre er immer noch der Schmiedssohn aus Putney mit nassem Mist an den Schuhsohlen. Wie die meisten Reformer und Puristen sehnte er sich danach, zu den Frivolitäten, die er verdammte, gleichwohl eingeladen zu werden.
    Er tat geschäftig an diesen köstlichen Mittwochabenden, als seien sie völlig ohne Bedeutung. Wenn ich in der langen Dämmerung dieser Maiabende mit der königlichen Barke an der Wassertreppe von York Place (das seit kurzem in Whitehall umgetauft und ausgebaut worden war) ablegte und die rotgoldene Sonne sich prächtig in den hunderten von Fenstern an der Flussseite des Palastes widerspiegelte, sah ich stets Cromwells dunkle Gestalt drinnen lauern. Er öffnete niemals ein Fenster … damit die Frühlingsluft ihn nicht betörte?
    Die Abende in Lambeth waren nicht nur Ausflüge in das Reich der fünf Sinne, sondern auch Reisen in die Vergangenheit. Dort, in der Gesellschaft der »alten Männer« – Howard und Brandon und Fitzwilliam und Lord Lisle –, war es immer 1520. Es war hier leicht, zu glauben, die Welt habe sich nicht verändert, es habe keinen Martin Luther gegeben, keine Abschaffung der Klöster, kein Lehrling habe sich einfallen lassen, ein Handwerk zu erlernen, das ihm die Tradition verwehrte – kein Unfug von Goldschmiedssöhnen, die Rechtsanwälte wurden. 1520 war die Welt ein sicherer, gebändigter Ort gewesen, wenn auch eine Mumie.
    Das wirkliche Leben war jetzt bei Cromwell drüben im Palast. Das wussten die Aristokraten, und sie ergötzten

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