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Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Titel: Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Bergmann
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Nacherzählungen anderer Quellen. Der Rest waren, so Rotter, »eigene Interpretationen und Erfindungen, wobei primitive Vorurteile, einfältig Banales und Unsinn eine groteske Verbindung eingegangen sind«. Sowies der Fachmann unter anderem nach, dass der Ex-Nahost-Korrespondent Konzelmann kaum Arabisch konnte. Dass die Kalifen bei ihm – schon 800 Jahre bevor die braunen Bohnen im Orient bekannt waren – Kaffee tranken. Und dass der legendäre Herrscher Harun ar Raschid, der von 786 bis 809 regierte, laut Konzelmann in Bagdad Wasserpfeife rauchte, obwohl die erst im 18. Jahrhundert von der böhmischen Glasindustrie dorthin geliefert wurde.
    In ähnlich verdienstvoller Weise nahm sich die Financial Times Deutschland dem notorischen Hans-Werner Sinn vom Münchner Ifo-Institut an. Der Ökonom hatte 2003 in seinem Buch »Ist Deutschland noch zu retten?« einen zum damaligen Zeitgeist passenden Abgesang angestimmt. Kernthese von Deutschlands »klügstem Professor« ( Bild ): Das Land verliere permanent an Wettbewerbsfähigkeit, was man daran erkenne, dass es immer weniger Güter ausführe. Dies versuchte Sinn mit einer Grafik, die die Exportanteile der USA und der Bundesrepublik zeigen sollte, zu belegen. Doch dummerweise hatten er und seine Kollegen geschlampt: Die Grafik zeigte nämlich die Importanteile – eine peinliche Panne, die die gesamte Argumentation infrage stellte. Später versuchte Sinn, die Scharte mit seiner abenteuerlichen Theorie der »Basar-Ökonomie« auszuwetzen. Demnach sei die Exportstatistik gar nicht aussagekräftig, weil viele Industriegüter zu wachsenden Wertanteilen in Niedriglohnländern vorfabriziert würden.
    Solche Blamagen schaden dem Experten wenig, weil das Publikum sich wenig für fundierte Analysen interessiert. Und weil sein Meinungsausstoß so hoch ist, dass seriöse Fachleute mit der Prüfung nicht nachkommen. Außerdem sind Experten stets gesucht, weil Journalisten sich scheuen, Phänomene selbst einzuordnen oder Schlüsse zu ziehen – liegen sie auch noch sonahe. Dafür sind Leute wie der stets sendebereite und komplett schmerzfreie Medienpsychologe Jo Groebel zuständig. Einen seiner tollsten Tipps gab er den Hauptstädtern via Berliner Morgenpost anlässlich eines Streiks bei Bus und Bahn: »Bei extrem wichtigen Terminen, wo es um substanzielle Dinge wie zum Beispiel um Vertragsunterzeichnungen geht, gilt: Die An- und Abfahrten sollte man nicht in letzter Sekunde planen.«
    Zwei Sätze hört man vom Experten übrigens nie: »Das weiß ich nicht.« Und: »Darüber müsste ich erst nachdenken.«
Der Grüß-August
    Monarch für Arme. Darf auf Kosten der Allgemeinheit im Berliner Schloss Bellevue amtieren, Hände schütteln, Bundesgartenschauen eröffnen und Reden vom Blatt ablesen. Der Job wurde eigens eingerichtet, um den Phantomschmerz der Bundesdeutschen nach dem Verlust von Kaiser und Führer zu lindern. Andererseits sollte der Bundespräsident aber auch keinen Schaden anrichten dürfen, weshalb er nichts zu melden hat. Umso mehr Zeit hat er, durch die Lande zu reisen, seine Marotten zu pflegen – und dabei immer populärer zu werden. Der legendäre Heinrich Lübke etwa pflegte hingebungsvoll die unfreiwillige Komik. Auf Staatsbesuch in Madagaskar begrüßte er seine Zuhörer in der dortigen Hauptstadt Tananarive (heute Antananarivo genannt) mit den Worten: »Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Tananarive!« Später sagte er über das Land: »Die Leute müssen ja auch mal lernen, dass sie sauber werden.« Lübke litt wohl bereits damals an einer Demenz. Walter-»Hoch-auf-dem-gelben-Wagen«-Scheel machte sich in den Siebzigernum das deutsche Liedgut verdient. Sein Nachfolger, der ehemalige SA-Mann und NSDAP-Parteigenosse Karl Carstens, hielt sich am liebsten draußen auf und wurde dort als »Wanderpräsident« bekannt.
    Richard von Weizsäcker gab dem Amt eine dramatische Wende. Er führte die Disziplin des Haltens vermeintlich bedeutsamer, tabubrechender Reden ein. In seiner Ansprache vom 8. Mai 1985 – vierzig Jahre nach Ende des von Nazi-Deutschland vom Zaun gebrochenen, verbrecherischen Zweiten Weltkriegs – kam er zu der in seiner Partei, der CDU, nicht unumstrittenen Erkenntnis, es sei ganz gut gewesen, dass die anderen gewonnen hätten. Auf Weizsäcker folgte Roman Herzog, der mit seiner berühmten Berliner Ruck-Rede (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«) von sich reden machte.
    Der Anspruch, etwas die Republik Bewegendes von sich zu geben,

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