Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Schule von deinem Gesicht erzählen, Tante Liv?«, fragte Emma.
»Es gibt bestimmt etwas Schöneres, was du deiner Klasse erzählen kannst. Wie wäre es mit dem Schinkensandwich deines Vaters? Das sieht toll aus.«
»Sei nicht albern, Tante Liv. Sandwichs sind keine News«, erklärte Bess altklug.
»Wie wäre es dann mit dem komischen Ding in deinem Gesicht?«, sagte Liv zu Emma. »Ach, das ist ja deine Nase.«
Emma kicherte.
»Erzähl ihnen von deiner Nase«, summte Bess.
»Ich erzähle ihnen von deiner Nase«, gab Emma fröhlich zurück.
Ihr Gelächter erweckte in Liv den Wunsch, Cameron wäre hier. Immer wenn sie in diesem Haus war, musste sie daran denken, wie es war, wenn sie als Kind Kelly besuchte. Die Familie Burke hatte sieben Mitglieder – zwei Jungs, drei Mädchen und die Eltern. Das Haus wirkte wie ein kleines Dorf im Vergleich zu der Wohnung, die Liv mit ihrem Vater bewohnte. Liv hatte es geliebt, darum hatte sie Jahre später ein Haus gebaut, in dem ein Dorf Platz gefunden hätte. Doch ein zweites Baby war nie gekommen, dann hatte Thomas sie verlassen. Der Traum von der lauten, lebhaften, lachenden Familie war ausgeträumt.
Sie wuschelte Bess durch die Haare, küsste Emma auf den Scheitel und warf einen Blick auf das Telefon an der Küchenwand. Sollte sie Cameron von dem Überfall erzählen? War es notwendig, einem Achtjährigen zu erklären, dass seine Mutter überfallen und geschlagen worden war? Irgendwann würde er es mitbekommen, doch bis nächsten Montag war er bei Thomas, außerdem hatte er im vergangenen Jahr schon genug zu verarbeiten gehabt.
Liv lehnte ihren Kopf gegen die Kopfstütze, als Kelly rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Kelly drückte auf die Schnellwahltaste der Freisprechanlage, bevor sie den Vorwärtsgang einlegte.
»Prescott and Weeks Temp Staffing, hier spricht Teagan.«
Liv und Kelly waren seit fünf Jahren Prescott and Weeks Temp Staffing. Das war Livs einziger Lebensbereich, der nach den vergangenen zwölf Monaten noch in Ordnung war, und sie arbeitete hart dafür, dass das so blieb. Deshalb war sie gestern Abend später gegangen. Die siebzehnjährige Teagan war Kellys Nichte und vor drei Monaten als Bürohilfe zu ihnen gekommen.
»Ja … mhm … mhm«, antwortete sie, als Kelly ihr Anweisungen zum Tagesablauf im Büro erteilte.
»Irgendwelche Nachrichten?«, fragte Kelly schließlich.
»Viele Leute haben angerufen und sich nach Liv erkundigt«, sagte Teagan.
Liv hob den Kopf. Es hatte sich bereits herumgesprochen? »Und was hast du ihnen gesagt?«
»Nur, was Kelly mir heute Morgen aufgetragen hat. Dass es dir gut geht, dass wir uns bedanken, dass sie angerufen haben, und dass eine von euch später zurückrufen wird.«
Liv hob die Augenbraue und sah Kelly an, so viel Organisationstalent beeindruckte sie. »Toll, mach weiter so.«
»Außerdem hat eine Polizeibeamtin angerufen. Liv soll sie zurückrufen«, sagte Teagan.
Liv kramte im Handschuhfach nach Stift und Papier, gab es aber schnell wieder auf, mit verbundener Hand zu schreiben. »Ich merke es mir. Detective Rachel Quest. Wenn sie wieder anruft, sag ihr, dass ich auf dem Weg zu ihr bin.«
Kelly legte auf. »Vielleicht haben sie ihn ja gefasst.«
»Wäre das nicht toll? Dann könnte ich die Nacht aus meinen Gedanken löschen.« Und ich müsste nicht wieder meine Zähigkeit unter Beweis stellen.
»Hey, hör dir das an«, sagte Kelly und drehte das Radio lauter.
»… die fünfunddreißigjährige Frau aus Newcastle war gestern gegen halb acht auf dem Weg zu ihrem Auto in einem Parkhaus in Jamestown, als sie von hinten gepackt wurde. Nach Aussage der Polizei hat sie ihren Angreifer mit einem Schlüssel verletzt und anschließend laut geschrien, erst da lief er weg. Sie hat sich dabei die Hand gebrochen und weitere Verletzungen davongetragen. Nach Aussage der Polizei hat ihr schnelles Handeln sie vermutlich vor schwereren Verletzungen bewahrt. In anderen Polizeinachrichten …«
»Wow, du kommst richtig clever rüber«, sagte Kelly.
Liv erschauderte bei dem Gedanken an den Widerstand unter ihrer Hand, den sie gespürt hatte, als sie dem Angreifer den Schlüssel ins Fleisch gerammt hatte. »Ja, wie Lara Croft, nur ohne Möpse.«
Das Polizeirevier lag auf dem Weg zum Büro, ein wenig abseits der Hauptstraße, zwischen alten Holzhäusern. Als Kelly an den Bordstein fuhr, warf Liv einen Blick auf den dunklen Klinkerbau und dachte an die Nächte, in denen sie darin bis spät neben ihrem Vater gesessen
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