Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
hatte.
Als sie noch ein Kind und zu klein gewesen war, um alleine zu Hause zu bleiben, hatte ihr Vater sie immer mitgenommen, wenn es darum ging, Jungs aus seinem Fitnessstudio aus dem Polizeigewahrsam zu holen. Manche riefen lieber ihn als ihre Eltern an, andere hatten nicht einmal Eltern. Wenn sie mit ihm hierherkam, war das nie ein freudiger Anlass. Natürlich war das nicht die Schuld der Polizei. Für Livs Vater war es die größte Kränkung, wenn die Polizei einen von seinen Jungs festnahm, darum ließ er sie meistens nicht einfach so davonkommen, sondern erteilte ihnen immer eine Lektion – Harte Arbeit ist der einzige Lohn, der was wert ist . Er ließ sie Toiletten schrubben oder zusätzliche Runden laufen. Liv erhielt dieselbe Strafe – das erste und einzige Mal –, als sie es verdient hatte. Sie war erwischt worden, als sie in einem Geschäft Lipgloss klaute. Man hatte sie aufs Revier gebracht, und dann musste sie ihrem Vater unter die Augen treten. Ohne zu murren, hatte sie ihre Strafe angenommen, weil sie genau wie die Jungs sich die Anerkennung des harten Kerls verdienen wollte.
»Soll ich mit reinkommen?«, fragte Kelly.
»Es geht schon, du bist spät genug dran. Ich nehme ein Taxi, wenn ich fertig bin.«
Sie stieg in die strahlende Aprilsonne hinaus und zuckte zusammen, als sie ihr blaues Auge zusammenkniff. Der Sommer hatte sich dieses Jahr länger als sonst gehalten, doch heute war die Luft herbstlich kühl.
Ein uniformierter Beamter führte Liv einen Flur entlang in den hinteren Teil des Gebäudes. Sie erkannte Rachel Quest auf den ersten Blick – sie war die einzige Frau im Raum. Sie saß am Telefon, als Liv hereinkam, hob kurz die Hand, wies auf einen Stuhl neben ihrem Schreibtisch und sprach weiter leise ins Telefon. Liv sah sich um und wartete. Nichts hier drinnen ließ auf eine technisch ausgefeilte Verbrechensbekämpfung schließen. Hier sah es eher wie in einem Ingenieurbüro aus – ein großer, chaotischer Raum mit großen chaotischen Schreibtischen. Ihrer Schätzung nach musste die Polizeibeamtin Anfang dreißig sein. Der knappe, direkte Ton legte nahe, dass sie nicht lange um den heißen Brei herumredete, und ihre dunkelblonden Locken, die sich um ihre Ohren ringelten, hatte sie schon länger nicht mehr schneiden lassen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte, und streckte ihre Hand aus. »Detective Sergeant Rachel Quest.«
»Livia Prescott«, sagte Liv und hob ihre verbundene Hand. »Tut mir leid.«
»Nennen Sie mich einfach Rachel.« Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Armlehne ihres Stuhles und inspizierte schweigend Livs Gesicht.
Liv rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. »Konnten Sie irgendwen festnehmen? Haben Sie mich deshalb angerufen?«
»Nein. Ich wollte Ihnen eigentlich mitteilen, dass Ihr Fall nach erster Prüfung an die Kriminalpolizei weitergeleitet wurde. Ich bin die leitende Ermittlerin und möchte gerne den Vorfall noch einmal mit Ihnen durchgehen. Wäre das möglich?«
Rachel Quest sprach bedächtig, als wollte sie ihre Fragen nur einmal stellen oder Missverständnisse vermeiden. Sie hatte die schlechte Nachricht nur kurz angesprochen, auch wenn sie Liv nicht entgangen war – der schwarz gekleidete Mann war nicht gefasst worden, die Polizei machte sich offenbar ernsthaft Sorgen und wollte schwerere Geschütze auffahren, um ihn zu finden. »Ja, je schneller, desto besser.«
»Wie geht es Ihnen heute Morgen?« Das klang eher, als wollte sie sich informieren, und nicht danach, als würde sie sich Sorgen machen.
»Mir tut alles weh, aber es geht schon.«
»Sind die Prellungen in Ihrem Gesicht und die Handverletzung Folgen des Angriffes?«
»Ja.«
Sie öffnete einen Ordner und sah die erste Seite durch. »Im Bericht steht, dass Sie sich die Handverletzung zugezogen haben, weil Sie versucht haben, sich zu verteidigen.«
»Ich habe ihn geschlagen. Ich habe ihm drei ordentliche Hiebe verpasst.«
Die Beamtin strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, warf einen flüchtigen Blick auf Liv, sah das Goldkettchen um ihren Hals, die gepflegt lackierten Nägel, die hochhackigen italienischen Schuhe unter Jasons Jeans – und in ihrem sonst so ausdruckslosen Gesicht standen Zweifel geschrieben.
»Mein Vater war über dreißig Jahre lang Besitzer des Wallace’s Boxing Gym. Ich weiß, wie man zuschlägt«, sagte Liv.
Rachel lächelte kurz. »Mein Vater hat dort gearbeitet. Viele Polizisten haben das damals unterstützt.«
»Dad
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