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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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beste gewinnen. Das Mädchen stand auf und öffnete das Fenster. Ein Windstoß fuhr ihr ins blondierte Haar, sie legte eine Hand auf ihren Ausschnitt, atmete tief ein, sah zu Tante und Onkel hin, schnupperte, hielt ihre Nase in den Wind, sog die Luft begierig ein. Dann sagte sie: Könnt ihr das riechen? Riecht ihr das nicht?
    Onkel Franz und Tante Loisi hatten in dem Moment verloren, als sie tatsächlich reflexhaft ihre Nasen reckten und mehrmals scharf einatmeten.
    Was?
    Stadtluft! sagte Mutter.
    Meine Mutter war ein Mädchen vom Land, damals natürlich viel naiver, als es in dieser Geschichte, die sie immer wieder gern erzählte, erscheint. Aber eines stimmt: Eine vierstündige Motorradfahrt hatte sie an den Ort gebracht, wo sie mit all ihrer Naivität erst diesen Anspruch erheben konnte: frei zu sein. Sie war nicht nervös. Weil sie naiv war. Sie glaubte, mit jedem Atemzug riechen zu können, dass der Geruch von Freiheit in der Luft lag. Sie witterte keine Gefahr. Die Klippen, an denen Hoffnungen wie die ihren gemeinhin zerschellten, erschienen ihr noch als das Fundament, auf dem sie aufbauen konnte. Sie wusste natürlich, dass der Ausbildungsplatz in der Stadt eine Chance für sie war. Aber sie ergriff diese Chance nicht so, wie man eine einzige oder die letzte ergreift. Sie war höchstens bereit, sich ergreifen zu lassen. Sie war am Anfang. Im Grunde hatte sich für sie die gebotene Chance bereits erfüllt: Sie war dadurch in die Stadt gekommen. Und, erzählte sie mir, sie war gar nicht sicher, ob sie das wirklich wollte: eine Ausbildung zur Lehrerin, damit sie dann davon lebte, Kinder auf das Leben vorzubereiten – bevor sie selbst ihr eigenes Leben gehabt hatte. Und sie wollte so schnell wie möglich weg von Tante Loisi. Sie dachte: um jeden Preis. Weil sie keine Ahnung davon hatte, wie schwindelerregend hoch Preise sein konnten. Sie hielt den Preis, den sie und ihre Eltern an Loisi zahlten, schon für zu hoch, sie dachte, dass die Freiheit billiger sein müsse. Ihre Eltern zahlten Kostbeitrag in Form von Naturalien (Wein, Speck, Marmelade), und noch eine kleine Geldsumme. Sie musste die Wäsche von Loisi und ihrem Mann waschen und bügeln, außerdem die Wohnung putzen. Dafür durfte sie im Kabinett hinter der Küche schlafen, das gleichzeitig die Abstellkammer war. Und sie musste das Gegrapsche vom Onkel ertragen, vom Herrn Ministerialrat.
    Er hat dich begrapscht?
    Nein.
    Warum erzählst du es dann?
    Er hat so geschaut!
    Sie wollte weg. Sie war naiv. Sie war für meinen Vater bestimmt.
    Vater lebte damals von Gelegenheitsarbeiten. Er war Laufbursche. Es heißt, er war der erste Laufbursche, der wirklich lief. Es war für ihn Training. Er war Empfangschef – so nannte nur er diese Tätigkeit, Mutter erzählte, er sei Rausschmeißer gewesen – in der »Splendid-Bar«, später beim »Café Dezentral«. Auch das war Training: Er ließ seine Muskeln spielen. Er war Kartenabreisser. Das war seine liebste Arbeit, kein Training. Billeteur im Kino »Auge Gottes«, wo er noch dafür bezahlt wurde, die Filme von Marilyn Monroe immer wieder sehen zu können. Nach der letzten Vorstellung ging er rauf zur Heiligenstädterstraße, zum Café »Ring Frei«. Gab die paar Schilling, die er verdient hatte, für fetttriefende Cevapcici aus und für ein schwarzes Bier mit einem Eidotter. Er musste auf sein Gewicht achten. So fleißig er auch Krafttraining machte und Muskeln aufbaute, er hatte immer Angst, zu leicht zu sein. Er war 1,80 Meter groß und 91,5 Kilo schwer. Er musste aufpassen. Er hasste den Geruch von Fett und Zigarettenrauch, genauso wie den Geruch von Schweiß und Leder. Aber so roch seine Welt. Nein, so roch, meinte er, bloß das Vorzimmer der Welt, in die er vordringen wollte. Die Welt mit dem Geruch der Siegeskränze und dem Duft der schönen Frauen.
    Das Café »Ring Frei« befand sich in dem Haus, in dem Mutter damals wohnte. Wenn sie ihre Arbeiten für Schule und Haushalt erledigt hatte und sie es in ihrem Kabinett nicht mehr aushielt, wenn sie die symphonischen Konzerte und Opern nicht mehr hören wollte, die aus dem Radio in der Küche dröhnten, dann huschte sie hinaus, ignorierte die Blicke von Onkel und Tante und lief in dieses Café. Die Stadt, die wirkliche Freiheit, war anderswo, das war ihr klar, das Café im Haus war bloß das Zimmer, in dem der Kanarienvogel ein bisschen fliegen konnte, wenn man den Käfig kurz öffnete. Aber immerhin. Es war nicht der Käfig.
    Natürlich war es ungewöhnlich,

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