Ich kenne dein Geheimnis
Pflicht hatten, die operative Ebene mit eiserner Hand unter Kontrolle zu halten. Nur treue Gefolgsleute konnten mit einem
Anteil am Gewinn rechnen, während Verräter, die auf eigene Faust arbeiteten, angemessen bestraft wurden, auch als Mahnung
für die anderen … Rosaly warf der Schwarzen Witwe einen Blick zu. Wieder schaute Maria Manniti jedem Einzelnen in die Augen.
Damit war das Thema beendet.
Bevor sie fortfuhr, sah Rosaly nochmals fragend zu ihrer Großmutter hinüber. Diese nickte und gab ihr ein Zeichen, ihr etwas
zu trinken einzuschenken.
»Ein hoher Kirchenmann, der in der Vergangenheit einem in Not geratenen Mitglied der Familie zur Seite gestanden hat, fordert
jetzt eine Gegenleistung.« Auf diese Worte hin erhob sich missbilligendes Gemurmel. »Eine Gegenleistung, die wir ihm nicht
abschlagen können.« Rosalys Stimme war noch ernster geworden.
Die Schwarze Witwe hielt den Atem an. In Gestalt dieser Frau, die ihre Enkel zurückverlangte, hatte die Vergangenheit sie
nun endlich eingeholt, um eine Blutschuld einzulösen. Sie sah die längst verdrängt geglaubten Gesichter ihrer Familie vor
sich. Die Zwillingsschwester, die ihr so gar nicht ähnlich war, der Vater, der sie verstoßen hatte, die verzweifelte Flucht,
das neue Leben als Frau eines Ehrenmannes. Sie hörte die |438| Explosion, die ihr den Mann geraubt hatte, und sah den Schatten ihres Retters vor sich, einen jungen Priester.
Während Rosaly weitersprach, nahm Maria Manniti einen großen Schluck Wasser. »Piddu, verzeih«, sagte sie in Gedanken, doch
der Hass blieb tief in ihrem Herzen.
Der Himmel über Mailand war nur leicht bewölkt, und die Sonne strahlte hell auf die Fassaden der Palazzi und die Gesichter
der Passanten. Commissario Giorgini saß neben Chiara auf dem Rücksitz des Streifenwagens und gab dem Fahrer Principinis Adresse.
»Der Professor ist heute auf einem Kongress außerhalb der Stadt. Als ich ihn davon in Kenntnis gesetzt habe, dass wir noch
mal in die Wohnung wollen, reagierte er ausgesprochen gereizt. Ermittlungen seien wie medizinische Untersuchungen, sie scheinen
einfach kein Ende zu nehmen, hat er gespottet. Auf einen Kaffee sei ich jederzeit willkommen, aber ich solle ihm nicht die
Zeit mit unnötigen Untersuchungen stehlen, wo es nichts zu finden gab. Seine ›arme Frau‹ habe nicht gewusst, was sie tat,
sie habe getrunken und sei depressiv gewesen.«
Im Vorzimmer der Wohnung warteten Barbera und Bonadeo, sie hatten sich bereits Handschuhe übergestreift. Silvia fiel auf,
wie angespannt und müde Bonadeo aussah. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Er wollte gerade antworten, als Chiara an ihm vorbei
ins Wohnzimmer stürmte, wo sich Anna Principini aus dem Fenster gestürzt hatte. Bonadeo ging ihr nach, aber Silvia hielt ihn
zurück. »Lass sie.«
Die Einrichtung des Wohnzimmers war in einer geschmackvollen Kombination aus antik und modern gehalten, mit zwei großen Sofas
aus hellem Leder und einem niedrigen Tisch, auf
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dem eine Sammlung von Silberwaren stand. An den Wänden hingen Landschaftsbilder aus dem 18. Jahrhundert , aber auch moderne Gemälde, die dem Raum erfrischende Farbtupfer verliehen. Chiara erkannte einen Balla und einen De Pero.
In der Ecke stand ein schwarzer Flügel. Obwohl alles sauber und perfekt aufgeräumt war, schien auf allem eine Staubschicht
zu liegen, als ob schon lange niemand mehr in diesem Haus wohnte.
»Wie sind die Männer hereingekommen?«, hatte sich Anna Principini gefragt, während sie am Fenster stand. Die Männer kamen
immer näher, beide trugen schwarze Handschuhe.
Dieselben Männer hatte Chiara auch vor ihrer Haustür in Rom gesehen. Was wollt ihr von mir? Genau das hatte Anna kurz vor
ihrem Tod auch gedacht.
In der Zwischenzeit hatten die Männer Anna gepackt und aufs Fensterbrett gezogen.
Chiara musste handeln. Ich muss sie fragen, bevor sie stürzt.
»Wo ist er? Sag es mir! Anna , ich bitte dich, sag mir, wo ich suchen soll!«
Chiara versuchte sie zu erreichen. Alles schien jetzt in Zeitlupe abzulaufen. Die Männer ließen Anna los, und ihr Körper schwebte
für einen Moment in der Luf, der ihr unendlich lang vorkam.
Chiara gab nicht auf. »Anna, ich bitte dich, sag’s mir, sag mir, wo ich suchen soll!«, schrie sie, während Silvia, Bonadeo
und Barbera sie erschrocken anstarrten.
Anna sah Chiara traurig an. Sie wehrte sich nicht mehr, als ob sie keine Angst mehr vor dem Tod hätte. Ihre
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