Ich kenne dein Geheimnis
Lippen bewegten
sich kaum merklich. Chiara schaffte es trotzdem, ihr den Satz von den Lippen abzulesen, und für einen kurzen Moment entspannten
sich ihre Gesichtszüge. Doch dann kehrte die Angst
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zurück: »Nein!« , schrie sie. Aber es hatte keinen Sinn: Anna fiel ins Nichts.
Wie eine Getriebene stürzte Chiara aus dem Wohnzimmer in den Flur, an der Küche vorbei, wo Rosy und José sie verwundert ansahen,
und passierte schließlich zwei weitere geschlossene Türen, bis sie vor dem letzten Zimmer ganz am Ende des Flures stehen blieb.
Die Polizisten liefen ihr hinterher, dabei versuchte Barbera, die Szene mit der Videokamera festzuhalten, achtete aber darauf,
Chiara nicht zu behindern.
Chiara öffnete die Tür und stand im Schlafzimmer. Ihr Blick fiel erst auf den Spiegel neben dem Schrank, dann auf den Mahagonischreibtisch
vor dem Fenster und glitt schließlich über die Objekte, die dort standen. Chiara wusste genau, wonach sie suchte: den Brieföffner.
Sie griff danach und ging zum Spiegel. Plötzlich wurde sie nervös.
Anna, hilf mir. Wo ist er?
Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie bemerkte es nicht. Ihre Hände bewegten sich wie von selbst. Sie tastete die Wand
ab und ließ die Finger am Rand des Spiegels über die Seidenverkleidung gleiten, bis sie einen Widerstand fühlte. Mit dem Brieföffner
hob sie den Stoff etwas an und zog einen Briefumschlag heraus, auf dem »An Giampiero« zu lesen war. Chiara begann zu schwanken.
Silvia eilte auf sie zu, um sie festzuhalten. »Chiara, alles in Ordnung?«
»Ja«, Chiara stützte sich auf ihren Arm. Aus ihrem rechten Nasenloch tropfte Blut. Das passierte oft, wenn sie sich sehr lange
stark konzentrieren musste. Silvia tupfte ihr mit einem Taschentuch das Blut ab und gab Entwarnung: »Alles okay, es ist vorbei.
Barbera, hole ihr bitte ein Glas Wasser.«
Pacì Barbera rannte in die Küche, und als er zurückkam, hatte Chiaras Gesicht wieder etwas Farbe bekommen und sie konnte allein
stehen.
|441| Ispettore Bonadeo hatte mittlerweile mit einer Pinzette ein in der Mitte gefaltetes Blatt Papier aus dem Umschlag gezogen
und reichte es der Kommissarin.
»Lies«, sagte Chiara.
Silvia faltete den Brief auseinander, der zwei Tage vor Annas Tod verfasst worden war, und begann:
Ich hätte diesen Brief gerne mit »Lieber Giampiero« überschrieben, aber ich kann es nicht. Du bist kein »Lieber« mehr , Du bist nicht mehr der Mann, den ich mehr geliebt habe als mich selbst. Seit langem weiß ich, dass Du ein Betrüger bist.
Mich betrügst Du mit jeder Hure, die Dir über den Weg läuft. Du betrügst aber auch Dich selbst und missbrauchst das Vertrauen,
das mein Vater in Dich gesetzt hat. Der Mann, der mit seinen Forschungen der Wissenschaft immer Ehre gemacht und alles getan
hat, Dich als seinen Nachfolger aufzubauen.
Ich weiß schon lange, dass Du mir etwas verschweigst. Deine plötzlichen Reisen, die seltsamen Typen, mit denen Du Dich getroffen
hast. Du antwortest nicht auf meine Fragen, wenn es um Deine Arbeit geht. Dein Telefonat und Deine letzte Reise nach Bukarest
haben mir die Augen geöffnet. Was hat es mit diesen Transplantationen auf sich?
Aber ich gebe zu, es ist auch meine Schuld, dass wir an diesem Punkt angekommen sind. Ich wollte den Tatsachen einfach nicht
ins Auge sehen. Ich habe mich hinter der Eifersucht versteckt, weil sie das kleinere Übel war. Und dabei habe ich gefressen
und getrunken, um mich von meiner Ohnmacht abzulenken. Ich denke, ich weiß jetzt, in welche furchtbaren Dinge Du verwickelt
bist, und ich habe große Angst. Aber ich gebe nicht auf! Ich gehe den Weg bis zum Ende. Nicht wegen Dir. Nicht wegen meinem
Vater. Aber für mich. Denn ich habe endlich gelernt, mich zu lieben.
Anna
|442| Silvia faltete den Brief zusammen und blickte zu Chiara hinüber. Beide waren tief erschüttert. Barbera, der die Szene filmisch
festgehalten hatte, schaltete die Kamera aus und schwieg.
»Das sind nicht die Worte einer Frau, die ihrem Leben ein Ende setzen will«, sagte Bonadeo, »Anna Principini hatte irgendetwas
Wichtiges über ihren Mann herausgefunden und wollte Klarheit.«
Silvia seufzte. »Ja, und wie es aussieht, hat ihr das große Angst gemacht.« Sie sah wieder zu Chiara hinüber. »Was meinst
du?«
»Sie ist nicht gesprungen, man hat sie gestoßen.«
»Aber es gibt keinerlei Einbruchspuren«, wandte Barbera ein.
»Dann muss sie die Mörder gekannt haben«, sagte Chiara. Sie
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