Ich kenne dein Geheimnis
einzige Berührung, um einen Tobsuchtsanfall auszulösen.
Während sie ihn ansah, spürte sie plötzlich etwas Feuchtes unter sich und sprang auf. Ein dunkler Fleck breitete sich langsam
auf dem Bettlaken aus. Brando hatte wieder ins Bett gepinkelt. Ohnmächtige Wut brandete in ihr auf. Sie packte Brando am Arm
und zog ihn aus dem Bett. »Du bist ein böses Kind. Schau, was du gemacht hast. Das erzähle ich deinen Freunden!«, schrie sie.
Wie ein wildes Tier sprang Brando sie an und biss ihr ins |430| Bein. Er war feuerrot im Gesicht und knurrte wie ein wütender kleiner Hund. Amanda schlug auf ihn ein und stieß ihn brutal
von sich weg. Brando schrie wie ein Besessener.
»Signora, was ist los?« Nana kam angelaufen und versuchte, den Jungen festzuhalten und in den Arm zu nehmen. »Hören Sie auf,
das macht es nur noch schlimmer!« Brando war nicht zu bändigen, er trat wild um sich.
»
Basta, Brando, Schluss jetzt!« Amanda schlug ihm ins Gesicht. Das hatte sie noch nie getan. Einen Augenblick lang waren alle
wie versteinert. Brando war so schockiert, dass er nicht einmal weinen konnte. Dann warf er sich in rasender Wut erneut gegen
Amanda und schrie: »Ich hasse dich!« Dabei trommelte er mit seinen kleinen Fäusten auf sie ein.
»Hör auf, Brando. Sag so etwas nie wieder zu deiner Mama!« Nana zog ihn weg.
»Ich bin nicht Brando! Und du bist nicht meine Mama! Geh weg, du bist böse. Geh weg!« Dabei hatte er sich aus dem Griff des
Kindermädchens befreit. Amanda wollte ihn festhalten, doch er war schneller und riss ihr ein Büschel Haare aus. »Gib mir meine
Schwester zurück! Ich will meine Schwester zurück!«, brüllte er.
Mit Hilfe des Kindermädchens öffnete Amanda Brandos Faust, einen Finger nach dem anderen. Der Junge trat um sich und schrie
noch immer, dann ließ er sich erschöpft aufs Bett fallen. Amanda wartete, bis er eingeschlafen war, nahm ihn in den Arm und
trug ihn in ihr Bett, so dass Nana das Laken wechseln konnte. Als sie sicher war, dass er fest schlief, verließ sie das Schlafzimmer
und schloss die Tür hinter sich.
Einige Stunden später schaute sie noch mal nach Brando. Er schlief. Ganz vorsichtig setzte Amanda sich auf die Bettkante und
sah ihn an. Ihr war, als sähe sie ihn das erste Mal. Noch |431| nie war er ihr so fremd vorgekommen wie jetzt. Die Worte, die er ihr während des Anfalls entgegengeschleudert hatte, ließen
sie nicht los. »Er ist eben ein schwieriges Kind«, hätte der Arzt sie mit Sicherheit beschwichtigt, »am besten, Sie gehen
einfach darüber hinweg.« So hatte sie es bisher auch immer gehalten. Nicht zum ersten Mal hatte Brando von einer Schwester
gesprochen. Doch der Psychiater hatte Amanda beruhigt: Das sei nur eine Kompensationsphantasie, um das Gefühl der Einsamkeit
und das Trauma des Kinderheims zu lindern. Außerdem hatte Pelori ihr mehr als einmal versichert, dass Brando ein Waisenkind
war. Es musste so sein. Aber was steckte dann dahinter?
Amanda erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Franco hatte den Jungen an der Hand gehalten, er trug ärmliche Kleidung und
zu große Schuhe. Vom ersten Augenblick an hatte Amanda eine große Zärtlichkeit für ihn empfunden und die Hoffnung gehabt,
dass ab diesem Moment für den Jungen ein neues Leben beginnen würde. Brando würde der Sohn sein, den sie und Franco nie haben
könnten, endlich würde er alle Liebe und Zuneigung erfahren, die ihm zustand. Wie er zu ihr gekommen war, spielte keine Rolle,
wichtig war nur, dass er da war.
Aber sie hatte sich geirrt. »Schlechte Ware«, hatte Franco Spargi eines Tages gesagt, nachdem Brando wieder einmal einen Anfall
gehabt hatte, in einem Ton, als sei der Junge ein fehlerhaftes Kleidungsstück. Amanda hatte nicht darauf reagiert. Um nichts
auf der Welt hätte sie sich ihren Traum zerstören lassen. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und einfach weitergemacht.
Jetzt musste sie der Realität ins Auge sehen: Sie war am Ende ihrer Möglichkeiten, ihr Traum war endgültig zerplatzt. Sie
sah auf die Uhr. Franco müsste längst zu Hause sein. |432| Immer wenn sie ihn brauchte, war er nicht da. Sie stand auf und verließ das Zimmer. Sie musste unbedingt zur Ruhe kommen.
Sie ging ins Bad, um einige Tropfen Valium zu nehmen. Dabei sah sie in den Spiegel: Sie sah schrecklich aus. Sie schminkte
sich und fuhr sich durch die Haare. An der Stelle, an der Brando ihr die Haarsträhne ausgerissen hatte, glänzte rote Haut.
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