Ich kenne dein Geheimnis
während er seinen Aktenkoffer aus dem Büro holte. Schließlich hatte er den
Chauffeur informiert und dann die Haustür hinter sich geschlossen. Danach war Anna völlig erschöpft gewesen, als hätte jemand
in ihrem Kopf den Schalter auf »aus« gedreht.
Sie stand auf. Ihr Magen war wie zugeschnürt, kein Hunger, kein Durst. Sie ließ sich von Rosy einen schwarzen Kaffee bringen,
duschte, zog sich etwas Bequemes an und ging spazieren. Sie musste die Spannung abbauen, die sich in dieser Nacht aufgestaut
hatte. Giampiero hatte ihr noch nie von Organtransplantationen erzählt. Wenn sie nur daran dachte, dass die Hände ihres Mannes
einem leblosen Kinderkörper die Leber oder das Herz entnahmen, erschauderte sie. Man las schreckliche Dinge in den Zeitungen.
Warum hatte Giampiero nie mit ihr darüber gesprochen? Wenn sie ihn fragen würde, hätte er bestimmt eine plausible Begründung
parat. Er würde ihr erklären, dass man durch Organtransplantationen Menschenleben retten könne, und sie würde ihm glauben.
Aber entsprach das auch der Wahrheit? Plötzlich kam ihr manches aus der Vergangenheit seltsam vor: Die spontanen Reisen, die |159| mysteriösen Telefonate, die Kurznachrichten auf seinem Handy, die Giampiero immer als Werbe-SMS der Telefongesellschaft abgetan
hatte und die sie sowieso nicht lesen konnte, da er sein Mobiltelefon nie aus der Hand gab.
Anna biss sich auf die Lippe. Warum war ihr das alles nicht schon früher aufgefallen? Einmal hatte sie Giampiero mit einem
slawisch aussehenden Mann in der Garage überrascht, den er als kroatischen Kollegen vorgestellt hatte. Ihr war aufgefallen,
dass der Fremde zusammengezuckt war, als ob er etwas zu verbergen hätte. Damals hatte sie dem keine Bedeutung beigemessen,
aber jetzt war sie sicher, dass der »kroatische Kollege« etwas mit dem Geheimnis ihres Mannes zu tun hatte.
Auf der Piazza San Babila hatte sie plötzlich das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie in
ihrer Kindheit mit dem Vater zur Heiligen Messe gegangen war. Er hatte sie untergehakt und ihr Wärme und Sicherheit gegeben,
mit ihm wäre sie bis ans Ende der Welt gegangen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr er ihr fehlte. Wenn er noch am
Leben wäre, hätte sie einen Freund, einen Menschen, dem sie bedingungslos vertrauen könnte. Ihr Vater war ein mitfühlender,
kluger Mann mit großem Weitblick gewesen. Er machte Giampiero zu seinem Assistenten, weil er von seiner Integrität und seiner
Fachkompetenz überzeugt war. Vielleicht hatte Giampiero ihr sein Geheimnis deshalb nicht offenbart, um sie nicht zu beunruhigen,
weil sie »schwache Nerven« hatte, wie er immer sagte. Eines seiner geflügelten Worte war: »Empfindsamen Menschen sollte man
die Wahrheit besser verschweigen.«
Anna schob den Gedanken beiseite und blickte sich um. Sie war ganz allein in der Kirche. Sie setzte sich auf eine Bank und |160| begann laut zu beten, wie es ihr Vater ihr beigebracht hatte. Aber die Worte flossen nur mechanisch aus ihrem Mund, ohne dass
sie den Sinn erfasste. Sie brach ab. Während sie die Kirche verließ und auf die Via Montenapoleone hinaustrat, fragte sie
sich, ob ihre Worte für Gott trotzdem eine Bedeutung hatten.
Die eleganten Boutiquen waren noch geschlossen. Mailands Prachtstraße sah an diesem Morgen aus wie jede andere Straße auch,
sogar ein bisschen traurig. Sie warf flüchtige Blicke in die Schaufenster und bog in die Via Manzoni ein, bis sie vor dem
Theater stand. Ihr Blick fiel auf das Plakat von Goldonis »Die venezianischen Zwillinge«, von dem ihr Massimo Dapportos Gesicht
regelrecht entgegensprang. Wehmütig dachte sie an die Zeit, als sie mit ihren Freundinnen regelmäßig ins Theater gegangen
war. Wie viele Aufführungen hatten sie gesehen, wie vielen großartigen Schauspielern hatten sie begeistert applaudiert! Vielleicht
war sie damals aber auch deshalb so glücklich gewesen, weil sie den Mann ihrer Träume gefunden hatte, um den sie alle beneidet
hatten.
Sie streifte durch die Ladenpassage und kam an den Schaufenstern von Laura Biagiotti vorbei. Auf der Verleihung des Premio
Copernico im Quirinal hatte sich die Modeschöpferin in Bestform präsentiert. Damals war Anna sich inmitten der attraktiven,
schlanken Frauen abgrundtief hässlich vorgekommen, selbst gegenüber der Baronin d’Altino. Sie war sogar ein wenig eifersüchtig
gewesen, als Giampiero die betagte Dame charmant
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