Ich kenne dein Geheimnis
Sie hatte ihm versprechen müssen, dass dieses Mal alles
perfekt laufen würde. Zweite Bedingung war die Präsentation einer Vorschlagsliste »kooperativer« Interviewpartner. Der erste
auf der Liste war Sebastiano Gemma, bei den weiblichen Zuschauern äußerst beliebt, besonders nach dem Erfolg der Serie »Der
Richter und das Urteil«, in der er die Rolle eines vorbestraften Kronzeugen spielte. Chiara hatte ihn vorgeschlagen, weil
sie wusste, dass er besonders zuverlässig war, was Interviews anging. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Die Sendung lief
ausgezeichnet. Regie, Licht, Aufnahme, alles funktionierte wie am Schnürchen. Chiara sprühte vor Vitalität, Gemma antwortete
spontan und ohne Umschweife auf alle Fragen und erzählte sogar eine rührende Geschichte aus seiner Kindheit. Nachdem er von
herzlichem Applaus begleitet das Studio verlassen hatte, fiel allen ein Stein vom Herzen, von Imelde über den Regisseur bis
zu Forte und Chiara.
Direkt nach Ende der Sendung bedankte sich Sebastiano |165| Gemma bei Chiara: »Du warst wunderbar, ich habe mich bei einem Interview noch nie so wohl gefühlt. Ich hatte zum ersten Mal
das Bedürfnis, von meiner Familie und meiner Vergangenheit zu erzählen, herzlichen Dank.«
»Ich habe zu danken, lieber Sebastiano«, Chiara küsste ihn auf die Wange. »Hoffentlich gibst du uns bald wieder die Ehre«,
gab sie das Kompliment zurück, erschöpft, aber glücklich.
In der Garderobe streifte sie die hochhackigen Schuhe ab und ließ sich in den Sessel fallen. Vielleicht habe ich damit meinen
Kopf gerettet, dachte sie, auch wenn ihr klar war, dass Forte diese Sendung mit Gemma nicht genug war. Ihre Feuerprobe würde
ein zweites Interview mit der Mangano sein. Und dieses Mal musste sie unter die Gürtellinie gehen, schonungslos, ohne Rücksicht
auf Verluste. Aus gutem Grund wurde Ermanno Forte, je nach Situation, »der Starke unter den Schwachen« oder auch »ein starker
Mann mit kleinen Schwächen« genannt.
Chiara fuhr nach Hause. Sie fühlte sich einsam. Es kam ihr inzwischen vor, als wäre Paolo schon seit einer Ewigkeit weg. Zwischen
ihnen lag eine halbe Welt. Sie suchte im Internet nach Last-Minute-Angeboten für New York, doch die einzigen freien Flüge
waren unter der Woche, dann, wenn sie mit Tony die Sendung schneiden musste. Erschöpft klappte sie ihren Laptop zu und ging
in die Küche, um sich etwas Gutes zu kochen. Sie hatte Lust auf einen Reissalat, wie ihn Nonna Lia immer im Sommer in Pieve
Santo Stefano gemacht hatte. In letzter Zeit musste sie oft an ihre Großmutter denken, meistens dann, wenn sie sich leer und
verunsichert fühlte. Sie schaute in den Kühlschrank und entdeckte Tomaten, eine Paprika und eine Packung Mozzarella. Irgendwo
musste noch |166| eingelegtes Gemüse sein. Dann schaute sie in den Vorratsschrank und fand eine Packung Reis. Sie prüfte die Kochzeit auf der
Packung: zwanzig Minuten. Genug Zeit, um sich auf dem Sofa ein bisschen auszuruhen. Sie füllte einen Topf mit Wasser, schaltete
den Herd an und ging ins Wohnzimmer zurück. Was konnte sie noch gegen ihre Einsamkeit tun? Donna Livia Colonna della Rovere
kam ihr in den Sinn, die Frau, die im sechzehnten Jahrhundert von Pompeo Colonna, dem Fürsten von Zagarolo, ermordet worden
war. Donna Livia, oder besser, die Vision von ihr, hatte es Chiara ermöglicht, Commissario Giorgini bei einem Satanismus-Fall
wertvolle Informationen zu liefern. Mit ihrer Hilfe war es der Polizei gelungen, die Anführer der Sekte zu verhaften. Noch
immer empfand Chiara ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, wenn sie an Donna Livia dachte. Durch diese Vision hatte sie endlich
Vertrauen zu den Bildern gewonnen, die sie mit ihrem inneren Auge wahrnehmen konnte. Mit Hilfe ihrer Gabe hatte sie Lucetta
Felisi das Leben gerettet. Dabei hatte sich die Lehrerin in Paolos Vater verliebt. Chiara war sich ganz sicher, dass sie und
Donna Livia Freundinnen gewesen wären, wenn sie in der gleichen Epoche gelebt hätten. Dieser Gedanke munterte sie auf, auch
wenn es ein bisschen verrückt war, seine Einsamkeit mit einem Menschen aus dem sechzehnten Jahrhundert vertreiben zu wollen.
Zum Glück war Chiara mit der Zeit selbstbewusster geworden, der Spott der anderen ließ sie kalt.
Sie ließ sich von ihrer Phantasie davontragen und stellte sich vor, dass sie Livias kostbare Gewänder tragen würde, die weiten
Reifröcke, die enggeschnürten Mieder, die
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