Ich kenne dein Geheimnis
Rolle wiederfand. Die beiden Männer schleiften sie zum Fenster. »Paolo , hilf mir! Sie wollen mich töten!« Inzwischen hatte einer der beiden das Fenster geöffnet, der andere versuchte sie herauszustoßen.
Bevor sie aus dem Fenster stürzte, drehte sich Chiara noch einmal um, doch Paolo war verschwunden. An seiner Stelle stand
der Edelmann mit dem schwarzen Pferdeschwanz, unbeweglich, mit versteinertem Gesicht. Wieder begann Staub vom Himmel zu regnen.
Palermo, 1771
Während er auf die Ankunft des Boten wartete, las Barone Volfango Rocca d’Altino, alias Wolfgang von Altemburg, noch einmal
die Nachricht, die ihm Principe di Gravina geschickt hatte.
»Hochverehrter Barone d’Altino, in letzter Zeit sehen wir uns mit großen Problemen konfrontiert. Herrschaften aus dem palermitanischen
Adel, hochwohlgeborene Männer und treue Diener der Heiligen Mutter Kirche, sind in unschöne Machenschaften verwickelt. Wir,
Federico Principe di Gravina und Marchese Cosimo Cutò, bitten Euch höflichst, die Einladung in den Palazzo Gravina anzunehmen.
Lassen Sie uns unsere Kräfte bündeln, um Ordnung und Gerechtigkeit wiederherzustellen.«
Volfango d’Altino zerriss den Brief und warf die Papierfetzen in den brennenden Kamin. »Der Bote des Principe di |170| Gravina ist eingetroffen«, sagte Balà, der auf der Türschwelle aufgetaucht war. Barone d’Altino verließ rasch das Zimmer.
»Du fährst mit der Kutsche hinterher«, befahl er.
Im Palazzo wurde er von Principe di Gravina und Marchese Cutò im Halbdunkel des prunkvollen Festsaals empfangen, dessen Wände
mit grünem Damast bespannt waren. Nach der protokollarischen Begrüßung und einigen einleitenden Bemerkungen über Integrität
und Treue gewisser Adliger Palermos kam man schließlich zum eigentlichen Anlass ihrer Zusammenkunft. Don Amilcare La Celeste,
ein stadtbekannter Edelmann, war verschwunden. Gravina hatte unauffällige Ermittlungen einleiten lassen, doch die Spuren Don
Amilcares verloren sich in einer Vollmondnacht, als er auf dem Weg zur Wohnung seiner Geliebten war. Mit ihm war auch sein
Diener verschwunden. Besonders bestürzt war man in Palermo über sein Verschwinden allerdings nicht gewesen, gab Marchese Cutò
zu bedenken. Don Amilcare La Celeste hatte wegen seiner Leidenschaft für verheiratete oder verlobte Frauen viele Feinde. Was
Gravina und Cutò wirklich beunruhigte, war, dass Don Amilcare nicht der erste Edelmann mit zweifelhafter Moral war, der urplötzlich
wie vom Erdboden verschluckt schien. Gravina ergriff das Wort:
»Neben La Grua und Belmonte hat auch der Bischof von Palermo darum gebeten, Nachforschungen anzustellen, um das rätselhafte
Verschwinden aufzuklären. Und deshalb habe ich den Marchese um Hilfe gebeten, der, wie Ihr wisst, ein Mann der Gerechtigkeit
ist.«
D’Altino nickte. Auch er hatte gehört, dass Marchese Cutò ein glücklicher Vermittler in komplizierten Rechtsfragen war. Erst
kürzlich hatte er beispielsweise den Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern des Hafenneubaus gelöst. Der Zustand des alten
Hafens La Cala hatte sich in den vergangenen |171| Jahren massiv verschlechtert, da die beiden unterirdischen Flüsse Kemonia und Papireto Unmengen Geröll und Schutt anspülten.
»Barone«, schaltete sich Cutò ein, »Ihr werdet verstehen, dass das Vertrauen des Volkes in die Justiz und in die Heilige Kirche
Schaden nehmen und das Volk in die Arme von Geheimbünden getrieben werden könnte. Aus diesem Grund haben wir Euch hergebeten,
um uns Eurer Unterstützung zu versichern, in
mutuum adiutorium
natürlich.«
»Ich verstehe, Ihr könnt auf mich zählen. Wer auch immer versuchen sollte, unsere Gesetze und die Gebote der Heiligen Kirche
mit Füßen zu treten, soll seine gerechte Strafe bekommen.«
Als Volfango Rocca d’Altino eine Stunde später den Palazzo Gravina verließ, erwartete ihn bereits die abfahrbereite Kutsche.
Balà half ihm beim Einsteigen.
Während sie gemächlich durch die Via Cassaro fuhren, die Piazza Quattro Canti überquerten und in die Via Maqueda einbogen,
konnte der Baron die düsteren Gedanken an die Konsequenzen dieser unheilvollen Situation nicht abschütteln. Die Bruderschaft
war in Gefahr. Seit seiner Ankunft in Sizilien waren der Reichtum und die Macht der Bruderschaft gewachsen, vor allem dank
der konfiszierten Vermögen ihrer adligen Opfer. Die drohende Gefahr würde den Adel aufrütteln, sie würden scharfe Sanktionen
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