Ich kenne dein Geheimnis
Spuren gefunden, die in eine andere Richtung deuteten. Am Tag von Anna Principinis Tod war außer ihr
niemand im Haus. Es gab keinerlei Einbruchspuren, die Eingangstür war verschlossen, auch wenn sich nicht feststellen ließ,
ob von außen oder von innen, die Kette war nicht vorgelegt worden. Wahrscheinlich hatte Anna es vergessen. Schlüssel fehlten
auch keine, fremde Fingerabdrücke in der Nähe des Fensters gab es ebenfalls nicht. Die beiden Polizisten hatten aber auch
keinen Abschiedsbrief gefunden, und auch sonst gab es keine Anzeichen für einen geplanten Selbstmord, weder auf dem Laptop
noch auf dem Handy des Opfers.
Silvia atmete tief durch. Im Augenblick gab es nichts, worauf sie ihre Vermutung stützen konnte. Sie musste noch die Autopsie
und die Auswertung der letzten Spur abwarten: Das Geschenk von Amanda Luxury, das dem Opfer am Tag ihres Todes zugestellt
worden war.
»Darf ich, Commissario?« Pacì Barbera tauchte in der Tür auf, eine Akte in der Hand. »Der Autopsiebericht.«
»Gib ihn her!«
|204| »Bitte sehr.« Barbera drückte ihr die Akte in die Hand und wartete, dabei wippte er auf den Fußballen auf und ab.
»Noch was?«
Barbera räusperte sich und blieb ruhig stehen. »Nichts, Commissario.«
»Dann kannst du gehen und … Schließ die Tür, bitte.«
Als Barbera das Zimmer verlassen hatte, begann Silvia zu lesen. Anna war an Herzstillstand und nicht an einem Schädelbruch
gestorben, wie es voreilig von einigen Zeitungen berichtet worden war. In den Stunden vor ihrem Tod hatte sie weder Psychopharmaka
noch sonstige Medikamente zu sich genommen. Allerdings hatte man bei der Untersuchung Reste von Alkohol im Blut festgestellt,
was die Selbstmordthese aufgrund von Depressionen erhärtete. Dem Bericht des Pathologen lag noch eine kurze Notiz bei, die
Silvia rasch überflog. »Ich wusste es!«, rief sie. Aufgeregt griff sie nach dem Telefon, um Chiara anzurufen, doch die Leitung
war besetzt. Um sich wenigstens etwas zu beruhigen, zog sie eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Papierstapel lag.
Noch war Chiara in Rom, und ihr Pakt galt im Augenblick noch nicht. Während sie am offenen Fenster stand und rauchte, betrachtete
sie wieder das Foto des dunkelhaarigen Kindes, das sie bei Livraghi gefunden hatten und das sie, ohne recht zu wissen warum,
an die Magnettafel hinter ihrem Schreibtisch gehängt hatte. Sie blickte in die blauen Augen des Mädchens, und ihre Gedanken
wanderten wieder zu Chiara. Auch was die Mordfälle im Eurostar und in Venedig anging, hatte ihre Freundin etwas Entscheidendes
»gesehen«: die abgeschnittene Zunge, ein Detail, das in der Presse nicht erwähnt worden war. Und jetzt Anna Principinis Sturz
…
Genau in diesem Augenblick rief Chiara zurück: »Morgen Mittag bin ich in Mailand.«
|205| Wie ein zum Tode Verurteilter nahm Silvia noch einen letzten tiefen Zug. »Ich erwartete dich«, antwortete sie zufrieden und
warf das noch fast volle Zigarettenpäckchen in den Mülleimer.
Ermanno Forte nahm Chiaras Wunsch überraschend positiv auf. Zwei Sendungen von »Mein Geheimnis« direkt hintereinander zu produzieren
sparte Kosten, er müsste weniger Studiomiete zahlen, auch die Gehälter, die Kosten für den Friseur, die Maskenbildnerin und
die anderen Mitarbeiter ließen sich minimieren. Außerdem hatte Chiara nach dem ganzen Stress etwas Ruhe verdient.
In der Tat stand Chiara nach den beiden anonymen Briefen unter enormem Druck, getrieben von der Angst, verfolgt zu werden.
Jedes Mal, wenn sie sich ihrer Wohnung näherte, beschleunigte sie ihren Schritt und blickte sich immer wieder um. Jeder Unbekannte,
dem sie begegnete, machte ihr Angst. Eines Abends hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihr zwei Männer vom Studio bis nach Hause
gefolgt waren. Mit klopfendem Herzen war sie aus dem Auto gestiegen, die Hausschlüssel schon in der Hand. Wie gebannt lauschte
sie ihren eigenen Schritten auf dem Asphalt. Vor einem Restaurant in der Nähe hatte sich gerade ein Grüppchen junger Leute
voneinander verabschiedet. Einer von ihnen hatte den Zebrastreifen überquert und war direkt auf sie zugekommen. Chiara atmete
tief durch: Sollte jemand sie kidnappen wollen, würde ihr der junge Mann zur Seite stehen. Es sei denn, er wäre selbst der
Angreifer … Wieder überfiel sie panische Angst. Nachdem sie sich ein letztes Mal umgeblickt hatte, schloss sie die Tür auf
und schlug sie dem jungen Mann direkt vor der
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