Ich kenne dein Geheimnis
Bissen. Dann öffnete sie den Schrank und räumte die Kleidungsstücke beiseite,
die sie für den Fall gekauft hatte, dass |201| sie noch mehr zunehmen würde. Sie würde sie verschenken. Schließlich gönnte sie sich ein ausgiebiges Bad mit ätherischen Ölen
und cremte ihren Körper mit einer Lotion ein, die sie von ihrer Kosmetikerin geschenkt bekommen, aber noch nie benutzt hatte.
Sie schminkte sich und zog sich an, als ob sie eine Verabredung hätte. Aber sie ging nirgendwohin.
Als es dämmerte, bemerkte sie stolz, dass sie noch keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte. Sie ging ins Wohnzimmer, öffnete
eines der vier Fenster zur Straße und blickte hinaus. Ein Lichtermeer hatte sich wie ein funkelnder Mantel über die Stadt
gelegt. Wärme durchflutete sie. Wie wenig brauchte man doch, um sich wohl zu fühlen, um zu leben. Plötzlich hörte sie ein
Geräusch hinter sich. Anna drehte sich um. »Wer ist da? Giampiero?«, flüsterte sie, damit niemand sie hören konnte. Nein,
er konnte es nicht sein. Er konnte nicht einfach so zurückgekommen sein. Sie lauschte und rührte sich nicht vom Fleck. Nichts.
Vielleicht kam das Geräusch von draußen? »José?« Keine Antwort.
Hier ist niemand
. Um sich zu beruhigen, konzentrierte sie sich auf die kleine Madonna, die zwischen ihren Brüsten baumelte und betrachtete
weiter das wundervolle Panorama. Wenn die Madonna doch die ganze Stadt beschützen könnte! In diesem Moment wurde sie am Arm
gepackt. Während Adrenalin in den Teil ihres Gehirns schoss, der sich wehren wollte, lähmte der andere Teil ihre Muskeln und
suggerierte ihr, alles sei nur ein Traum. Warum sollte sie jemand aus dem Fenster stoßen wollen? Erst als sie bemerkte, dass
ihre Füße keinen Bodenkontakt mehr hatten, trat sie um sich wie eine Furie. Sie wollte um Hilfe schreien, doch aus ihrem Mund
drang kaum mehr als ein verzweifeltes Krächzen. Ihre Hände fanden keinen Halt mehr, und ihr Körper, ihr viel zu schwerer Körper,
stürzte in die Tiefe. »Es ist |202| vorbei«, dachte sie noch, bevor ihr Herz aussetzte, wenige Meter vor dem Aufprall.
»Ehefrau des renommierten Wissenschaftlers Giampiero Principini bei Sturz aus dem achten Stock ums Leben gekommen.«
Silvia saß am Schreibtisch und las den Artikel, der auf die fette Schlagzeile folgte. Wie die anderen italienischen und ausländischen
Blätter gab auch der Corriere della Sera als Ursache für Anna Principinis Selbstmord ihr gestörtes Essverhalten, ihr starkes
Übergewicht und ihre Alkoholsucht an. In La Repubblica und Il Messaggero gab es Hinweise auf Depressionen, außerdem wurde
über eine Ehekrise spekuliert, denn ihrem Ehemann wurden zahlreiche Affären nachgesagt. Doch die Presse äußerte sich auch
kritisch gegenüber der Mailänder High Society und ihrem Streben nach ewiger Jugend, der man im Notfall sogar mit plastischer
Chirurgie nachhelfen musste, manchmal mit grotesken Ergebnissen. Pillen und Pastillen, Fitnessstudios und rigide Diäten standen
ebenso im Fokus. Auf einem Internetportal konnte man anhand zweier Fotos den tragischen Verfall von Anna Principini nachvollziehen.
Das erste Bild zeigte sie glücklich und strahlend schön am Tag ihrer Hochzeit, das zweite war beim letzten Premio Copernico
aufgenommen worden. Wer es nicht besser wusste, wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich um dieselbe Person handeln könnte.
In einer Randnotiz nahm der Journalist auch Bezug auf Annas Vater, Professor Ambrogio Bechi, und zitierte natürlich auch ihren
Ehemann, Giampiero Principini, Bechis Nachfolger: »Ich bin am Boden zerstört. Ich hätte nie gedacht, dass meine geliebte Anna
so etwas tun könnte. Es stimmt, sie war in letzter Zeit oft erschöpft und niedergeschlagen. Doch selbst in dieser schweren
Zeit stand sie mir bei der Organisation |203| von Wohltätigkeitsveranstaltungen im Kampf gegen Krebs und Alzheimer zur Seite.«
Silvia runzelte die Stirn. Anders als andere Frauen war sie gegen Giampiero Principinis Charme immun. Auf sie wirkte sein
ganzes Auftreten heuchlerisch und gekünstelt. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass Annas Tod ihn von einer schweren Last
befreit hatte. Dazu passte Chiaras Vision, in der zwei Männer sie an den Armen gepackt und aus dem Fenster eines luxuriösen
Palazzo gestoßen hatten …
Wenn es gar kein Selbstmord war? Der Staatsanwalt schien kaum Zweifel zu haben, und auch ihre Mitarbeiter Bonadeo und Barbera
hatten vor Ort keine
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