Ich kenne dein Geheimnis
Dicke Hagelkörner
prasselten gegen die großen Wohnzimmerfenster, es klang wie Maschinengewehrfeuer. Sie hob den Blick und schaute fasziniert
auf die vom Sturm gepeitschten Baumkronen. Seit Jahren hatte sie kein solches Gewitter mehr erlebt. Sie hoffte nur, dass sich
das Wetter bis zur Stiftungsfeier wieder bessern würde.
Sie dachte an die vor ihr liegende Aufgabe und fragte sich, ob sie ihr wirklich gewachsen war.
»Reiß dich zusammen, Vivy. Das Stiftungsprojekt wird ein Erfolg werden, da bin ich sicher«, hatte ihr Cesco Mut gemacht, als
er Gerrys Plan für die Stiftungsfeier gesehen hatte. An allen vier Wänden sollten riesige Fotos von Lupo in eigens dafür angefertigten
Leuchtkästen präsentiert werden. In chronologischer Reihenfolge sollte sich das kurze Leben des Lupo Sannazzaro den Gästen
wie in einem Zeitraffer darstellen.
Als sie den Entwurf begutachtet hatte, war Vivy flau im Magen geworden. Jetzt war sie am Zug. Die Fotos mussten noch mit einem
speziellen Bildbearbeitungsprogramm aufbereitet werden, und das würde einige Tage in Anspruch nehmen.
Sie nahm einen Schluck Tee, stand seufzend vom Schreibtisch auf und ging zum Schrank hinüber, in dem die Fotoalben lagen.
Es musste Jahre her sein, seit sie das letzte Mal die Familienfotos betrachtet hatte. Irgendwo musste auch noch |261| eine alte Schachtel sein … »Hier ist sie ja!« Ganz hinten im Schrank hatte sie die blaue Pappschachtel entdeckt, die sie gesucht
hatte.
Der Donner hallte in ihren Ohren wider. War das Gewitter etwa noch stärker geworden? Einen Moment lang hatte sie den absurden
Gedanken, der Himmel würde ihre innere Zerrissenheit erkennen und die passende Geräuschkulisse dazu liefern. Eine kindische
Vorstellung, keine Frage, aber ein Weg, sich weniger einsam zu fühlen. Sie setzte sich auf den Boden und schaute auf den Stapel
Fotos in der Schachtel, dann zog sie eines heraus. War Raul als Kind wirklich so spindeldürr gewesen? Der gerade vier Jahre
alte Lupo stand mit leicht gespreizten Beinen neben dem älteren Bruder, sein Gesicht drückte Kampfeslust aus. Mit dem rechten
Zeigefinger fuhr Vivy sanft über die blonden Locken, die Lupo bis über die Augen fielen. Sie hätte ihr Leben dafür gegeben,
seine Haare noch einmal flattern zu sehen. Mit dem gleichen Finger streichelte sie Rauls Gesicht. Die Erinnerungen übermannten
sie, der Schutzwall, den sie all die Jahre gegen die immer wieder aufkeimende Trauer errichtet hatte, drohte einzustürzen.
Sie musste stark bleiben. Wegen ihrer Stärke wurde sie allenthalben bewundert, aber auch gefürchtet. Mit einer resoluten Handbewegung
wischte sie sich die Tränen aus den Augen und stand auf, um die Schachtel auf den Schreibtisch zu stellen. Doch ihre Gefühle
fuhren Karussell. Einen Moment lang schien sich das Zimmer zu drehen. Um nicht zu stürzen, stützte sich Vivy auf die Sofalehne
und ließ dabei die Schachtel fallen.
Als sie sich bückte, um die Fotos wieder einzusammeln, fiel ihr Blick auf ein altes Schwarzweißbild mit vergilbten Ecken,
auf dem eine hübsche junge Frau im Abendkleid zu sehen war. Es war für die Vogue aufgenommen worden, während ihrer |262| Zeit in Paris und London. Eine glückliche Zeit. Danach war sie nach Florenz zurückgekehrt. Sie hatte sich gerade ihren Nasenhöcker
richten lassen. Ihr Traumberuf war Schauspielerin gewesen, doch ihr Vater war dagegen. »Ich gestatte nicht, dass der gute
Name unserer Familie in den Schmutz gezogen wird«, hatte Barone Velio mit entschiedener Stimme gesagt, die keinen Widerspruch
duldete. Vivy hatte sehr darunter gelitten, doch kurz danach hatte sie die Liebe ihres Lebens getroffen, Conte Rodolfo Sannazzaro.
Ihr Vater hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um ihre Hochzeit zu
dem
Ereignis des Jahres werden zu lassen.
Während sie die Fotos wieder in die Schachtel zurücklegte, fiel ihr ein unscheinbares Bild auf, das unter einem anderen hervorlugte.
Ein Familienporträt aus den vierziger Jahren, sie musste damals etwa sieben gewesen sein. Ihr Vater in Sakko und Krawatte,
ihre Mutter in Kostüm und weißer Bluse. Vivy konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wann und wo das Foto gemacht wurde,
aber als sie den Karren sah, von dem herab ihre Eltern dem Fotografen entgegenstrahlten, musste sie lächeln. Der Karren wurde
von zwei Ochsen gezogen. Ein aus heutiger Sicht etwas merkwürdiges Fortbewegungsmittel mit einer hölzernen Sitzbank, für die
damalige
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